Das Kind
Spedition nicht gewartet haben.«
»Ich wollte einfach keinen Ärger mit Engler.« »Blödsinn. Den hast du jetzt doppelt und dreifach, wenn der alte Giesbach quatscht. Also, was wird hier gespielt?« Robert sah durch die getönten Fenster seiner Beifahrertür auf den breiten Bürgersteig der belebten Straße. Es war erst Ende Oktober, aber in dem Café an der Ecke stand tatsächlich schon ein Weihnachtsmann im Schaufenster. »Du hast recht«, seufzte er schließlich. Er öffnete mit klammen Fingern sein Jackett, nachdem er endlich seine Hand wieder bewegen durfte.
Borchert zog die Augenbrauen hoch, als Stern ihm die DVD vor die Nase hielt.
»Das hier lag gestern in meinem Briefkasten.« »Was ist da drauf?«
Statt einer Antwort schob Robert die Diskette in den Schlitz des CD-Players, und der kleine Bildschirm des Navigationssystems leuchtete auf.
»Sieh selbst.«
Er schloss seine Augen und wartete darauf, dass die unheimliche Stimme wie Giftgas aus den Lautsprecherboxen in den Innenraum des Wagens strömen würde. Doch stattdessen hörte er nur ein verrauschtes Knacken.
»Willst du mich verscheißern, Robert?«
Stern öffnete verwirrt die Augen und sah auf den rotfl eckigen Bildschirm.
»Das versteh ich nicht.« Er drückte eine Taste, zog die DVD hastig aus dem Abspielgerät und besah sie sich von allen Seiten nach Kratzern. »Die muss kaputt sein! Gestern war noch alles drauf.«
Oder waren die Abnutzungserscheinungen doch keine op-
tische Täuschung gewesen?
»Was alles ?«, fragte Andi.
»Na alles. Die Stimme, die Säuglingsstation …« Stern wurde hektisch und fühlte eine Panikattacke in sich aufsteigen. »… die Aufnahmen von Felix’ Tod. Und dieser kleine Junge, der aussieht, als wäre er mein Sohn.«
Er setzte noch mal von vorne an, als er Andis verständnislose Miene sah, und erklärte ihm, so gut es ging, mit welch schockierenden Aufnahmen er gestern Abend konfrontiert worden war.
»Und deshalb kann ich nicht zur Polizei. Er will die Zwillinge töten. Also muss ich allein herausfi nden, woher Simon von den Morden weiß. Mir bleiben noch vier Tage«, schloss Stern und kam sich auf einmal völlig lächerlich vor. Hätte ihm jemand noch vor zwei Tagen eine so abenteuerliche Geschichte aufgetischt, hätte er ihn ausgelacht und zum Teufel gejagt.
Andi nahm ihm kommentarlos die DVD aus der Hand und schaltete die Innenraumbeleuchtung an. Draußen war es wegen des Dauernieselregens so trübe wie in einem türkischen Dampfbad.
»Was denkst du?«, fragte Robert vorsichtig, als Borchert nach einer Minute des Schweigens immer noch nichts gesagt hatte.
»Ich glaub dir«, sagte er schließlich und gab ihm die Silberscheibe zurück.
»Wirklich?«
»Ich meine, ich glaub dir, dass da gestern noch was drauf war. Das Ding hier ist eine EZ-D.«
»Eine was?«
»Eine Wegwerfdiskette. Als ich noch im Filmgeschäft war, gab’s so was nur als Prototyp. Hat eine spezielle Polykarbo nat-Beschichtung, die mit Sauerstoff reagiert. Nimmt man sie nach dem Abspielen aus dem Rekorder, wird sie unter Lichtund Sauerstoffeinfl uss unbrauchbar. Wurde eigentlich für Videotheken entwickelt, damit man nach dem Ausleihen den Film nicht mehr zurückbringen muss.« »Okay, das ist doch ein Beweis. Was soll ich mit einer Einweg-DVD? Da waren Informationen drauf, die ich nicht weitergeben soll.«
»Robert, sei mir nicht böse, aber …«, Borchert kratzte sich an seinem kahlen Hinterkopf, »… erst fi nden wir diese Leiche, und jetzt wirst du von einem Unbekannten erpresst, der behauptet, dein Sohn wäre noch am Leben? Existiert diese Stimme vielleicht nur in deinem Kopf?«
Stern sah in Borcherts rotwangiges Gesicht und begriff, dass diese Frage völlig berechtigt war.
Vielleicht hatte Felix’ Tod ihm zehn Jahre später nun doch den Verstand geraubt? So musste es wohl sein. Alle objektiven Fakten bewiesen eindeutig, dass Felix gestorben war. Doch die grausame Stimme auf der DVD und Simons Erinnerungen hatten mit unbarmherziger Treffsicherheit etwas in seinem Innersten freigelegt, von dessen Existenz er bislang selbst nichts geahnt hatte. Eine Ader, die offenbar für übernatürliche Phänomene empfänglich war. Schockiert musste sich Stern eingestehen, dass ihm das Fehlen jeglicher rationaler Erklärungen egal wäre, wenn eine höhere Macht ihm ein Wiedersehen mit seinem Sohn ermöglichen würde. Borchert hatte recht.
Er stand tatsächlich kurz davor, durchzudrehen. Seine Augen füllten sich mit Tränen, während er seine Hand auf Andis
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