Das Kind
Rat seiner Kollegen entschlossen gewesen, die aggressive Behandlung einzustellen. Eine Maßnahme, die vermutlich nicht das Leben verlängerte, sicher aber das Leiden des Pati enten verringerte.
»Das ist richtig«, antwortete der Professor. »Derzeit bekommt Simon nur noch Cortison gegen die Hirnschwellung und Carbamazepin gegen seine Anfälle. Ich habe ihn noch einmal für eine Nachuntersuchung einbestellt, in der ich klären will, ob wir eventuell die Bestrahlungen doch wieder aufnehmen sollen, aber die Aussichten sind leider äußerst gering.«
Der Neurologe stand von seinem Schreibtisch auf und ging zu einem wuchtigen Rednerpult in der Nähe des Fensters. »Wie weit sind denn Ihre anderen Ermittlungen? Wissen Sie überhaupt, um wen es sich bei dem Ermordeten handelt, den Sie gestern mit Simons Mitwirkung fanden?« »Lassen Sie es mich mal so formulieren …« Brandmann drehte wie eine Schildkröte seinen faltigen Hals in Richtung Professor. »Wenn Simon tatsächlich wiedergeboren sein sollte, dann hat er uns in seinem früheren Leben einen großen Gefallen getan.«
»Der Tote war also ein Verbrecher?«
»Ja. Der übelsten Sorte. Harald Zucker verschwand vor fünfzehn Jahren spurlos von der Bildfl äche. Interpol hatte ihn seitdem in Verdacht, mit grausamen Folterverbrechen in Südamerika in Verbindung zu stehen. Anscheinend hat er sich doch nicht abgesetzt.«
»Zucker?« Müller blätterte abwesend durch die handschriftlichen Vortragsnotizen, die auf seinem Pult lagen. Es klopfte. Die Tür öffnete sich, bevor er »herein« sagen konnte. Als Erstes erkannte er den Pfl eger, den alle hier im Haus nur Picasso nannten, obwohl Müller an dem grobschlächtigen Äußeren des Mannes nichts Künstlerisches erkennen konnte. Picassos rechte Hand ruhte auf der Schulter eines kleinen Jungen und schien ihn mit sanftem Druck in
das Büro hineinzubugsieren.
»Hallo Simon.« Brandmann wälzte sich aus dem Besucherstuhl und begrüßte den Kleinen mit der Vertrautheit eines alten Bekannten. Simon nickte nur schüchtern. Er trug eine hellblaue Jeans mit aufgenähten Taschen, eine Cordjacke und nagelneue weiße Tennisschuhe. Um seinen Hals baumelten die Kopfhörer eines MP3-Players.
»Wie geht es dir heute?«, wollte der Chefarzt wissen und trat hinter dem Pult hervor.
Der Junge sah gut aus, aber das konnte auch an der Perücke liegen, die etwas von seiner Blässe ablenkte. »Ganz okay, ich bin nur etwas müde.«
»Fein.« Müller streckte sich, während er mit Simon sprach. Es versuchte dadurch, den offensichtlichen Größenvorsprung des Kommissars etwas auszugleichen. »Der Herr hier ist von der Kripo, und er möchte dich wegen der gestrigen Vorfälle befragen. Genauer gesagt will er einen Test mit dir machen, und ich bin mir nicht sicher, ob ich dir das zumuten darf.«
»Was für ein Test?«
Brandmann räusperte sich und gab sich die größte Mühe, dem Jungen ein gewinnendes Lächeln zu schenken. »Simon, weißt du, was ein Lügendetektor ist?«
10.
I n der Gegend rund um den Hackeschen Markt gab es nur
in schlechten Filmen einen Parkplatz, wenn man ihn benötigte, und so blieb Borchert mit seinem Geländewagen einfach in zweiter Reihe stehen, als sie die Praxis in der Rosenthaler Straße erreichten. Die Fahrt von Moabit nach Mitte hatte Stern für verschiedene Anrufe genutzt, unter anderem für einen bei der Telefonauskunft, die ihm gleich mehrere Einträge für einen Dr. Johann Tiefensee anbot. Zu seinem Erstaunen war der Mann nicht nur Psychologe, sondern auch Psychiater, also ein studierter Mediziner; angeblich sogar Privatdozent für medizinische Hypnose an der HumboldtUniversität.
»Moment mal, Robert.«
Stern fühlte, wie sich Borcherts Hand wie eine Schraubzwinge um sein Handgelenk legte, als er sich abschnallen wollte.
»Du kannst vielleicht das Mädel, diese Carina, verscheißern, aber ich fall da nicht drauf rein.«
»Ich versteh dich nicht.«
Stern wollte seine Hand wegziehen, aber es gelang ihm nicht. »Warum spielst du den Totengräber? Der Strafverteidiger, den ich kenne, verlässt seine Villa nur, wenn er es irgendjemandem in Rechnung stellen kann. Auf keinen Fall arbeitet er für geistig verwirrte Kinder. Halt, lass mich jetzt mal ausreden.«
Stern fühlte, wie sein Arm taub wurde, so stark quetschte Andi seine Finger zusammen. Das Hupen vorbeifahrender Autos schien Borchert gar nicht zu beachten.»Ich bin kein Idiot. Anwälte wie du fl iehen nicht ohne
Grund vor der Polizei. Also sag mir, warum wir bei der
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