Das Kind
Souterrain des Hauses.
Stern zog seine Schuhe aus und legte sich ansonsten vollständig bekleidet zwischen Simon und Carina, die schon so fest schliefen, dass sie sein Eintreten gar nicht bemerkt hatten. Sie lagen unter einer dünnen Tagesdecke an den jeweils entgegengesetzten Enden des großen Doppelbettes. Wie ein altes Ehepaar, das sich gestritten hatte und vor dem Einschlafen auf Distanz gegangen war.
Stern wusste diesen glücklichen Zufall zu schätzen, der es ihm ermöglichte, sich zwischen ihre Körper zu quetschen. Carina pfl egte im Schlaf durch das Bett zu wandern. Wäre er nur fünf Minuten später gekommen, so hätte sie sicher, mit Simon verknäult, die gesamte Matratze für sich beansprucht. Die Heizung war voll aufgedreht. Doch Stern fröstelte trotzdem, als die Schreckensbilder des Tages noch einmal in ihm aufstiegen.
Die Leiche im Kühlschrank. Tiefensee, der Friedhof. Und
immer wieder Felix.
Er drehte sich zur Seite und sah Carina an. Er war versucht, die Hand nach ihrer linken Schulter auszustrecken, die nackt
unter dem Bettzipfel hervorlugte. So zart sie auch war, so stark erschien ihm der Halt, den sie ihm würde geben können, wenn er sie nur fl üchtig berührte. Carinas dichtes, leicht gewelltes Haar breitete sich wie ein Fächer über das Kopfkissen. Sie selbst lag auf der Seite.
Stern lächelte. Genau in dieser Position hatte er sie zum ersten Mal gesehen. Mit ausgestrecktem Arm, angezogenen Beinen und geschlossenen Augen. Drei Jahre war es nun schon her, als er auf dem Heimweg in seine leere Villa einem plötzlichen Impuls nachgegeben hatte und auf den Parkplatz eines Möbelhauses einbog. Beim Rundgang in der Bettenabteilung glaubte er plötzlich eine besonders schöne, lebensechte Schaufensterpuppe auf einem der Betten liegen zu sehen. Doch dann schlug Carina die Augen auf und lächelte ihn an. »Soll ich sie kaufen?«, fragte sie ihn. Eine Stunde später half er ihr, die neue Matratze in ihre Dachgeschosswohnung am Prenzlauer Berg zu tragen.
Plötzlich stand ihm auch wieder der Grund vor Augen, warum er sie verlassen hatte. Vor drei Jahren. Damals hatte er nach dem Sex neben ihr wach gelegen und gespürt, wie man sich fühlte, wenn man vergessen konnte. Wenn eine leidenschaftliche Umarmung die quälenden Bilder aus dem Kopf spülte und auf einmal nur noch die Gegenwart existierte. So wie jetzt hatte er auch damals seine ausgestreckte Hand wieder zurückgezogen, weil er sich schuldig fühlte. Er hatte nicht das Recht, ein neues Leben anzufangen, in dem die Erinnerungen an Felix irgendwann verblassen würden wie Fotografi en auf dem Kaminsims.
Am nächsten Tag hatte er sich wegen eines nichtigen Anlasses von Carina getrennt, bevor es zu spät war. Bevor er sich in ihr verlor.
Diese und tausend weitere Gedanken hielten Stern noch
eine halbe Stunde wach, dann zog ihn die Erschöpfung endlich mit Macht in die Dunkelheit eines traumlosen Schlafes hinab. In ihm gefangen, spürte er weder die unruhigen Bewegungen Carinas neben sich noch den ernsten Blick in seinem Nacken.
Der Junge wartete noch eine kurze Weile. Dann, als er die gleichmäßigen Atemzüge des Anwalts hörte, schlug Simon vorsichtig die Decke zurück, nahm seine Perücke vom Fußboden und schlich auf Zehenspitzen zur Tür hinaus. 13.
E twas zerbrach. Das Störgeräusch musste zwei Türen, eine
Treppe und zirka zwanzig Meter Luftwiderstand überwinden, bevor es mit stark verminderter Intensität in das Gästezimmer drang. Stern stöhnte und riss sich dadurch selbst aus dem Schlaf. Das Splittern hatte er nur unterbewusst wahrgenommen. Was ihn letztlich weckte, war die Hand auf seinem Gesicht. Carina hatte in ihren Träumen wieder gearbeitet und seinen Kopf als Ablagefl äche entdeckt. Noch betäubt von der viel zu kurzen Erholungspause, löste Robert sich aus der unabsichtlichen Umarmung. Er streckte sich, drückte sein versteiftes Rückgrat gegen die harte Matratze und war plötzlich irritiert. Etwas war hier falsch. Er brauchte nicht lange, um zu erkennen, was sich in dem dunklen Zimmer verändert hatte.
Stern schnellte herum, sprang vom Bett und rannte ins an grenzende Badezimmer. Leer. Simon war nicht mehr da. Nicht mehr bei ihnen!
Er riss die Tür auf und rannte auf Socken nach oben. Noch besaß er kein Zeitgefühl, wusste nicht, wie lange er geschlafen hatte. Draußen war es dunkel, kein Licht fi el durch die Sprossenfenster, was im Berliner Herbst alles bedeuten konnte: später Nachmittag, Mitternacht, halb vier Uhr
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