Das Kind
sein Plan funktionierte.
»Hör mal zu.« Er sprach etwas lauter gegen die Nebengeräusche des Fahrtwindes an. »Wir sitzen hier in einem der meistverkauften Kleinwagen der Welt. Er ist außerdem silbern lackiert, die beliebteste Autofarbe auf unserem Planeten. Mit anderen Worten: Unauffälliger können wir uns kaum fortbewegen. Und jetzt willst du unsere gesamte Tarnung über den Haufen schmeißen, indem du das hier an ziehst?«
»Jetzt puller dich nicht ein.« Borchert kurbelte die klemmende Scheibe wieder nach oben. »Sieh lieber mal nach links.«
Sie fuhren gerade an der Philharmonie vorbei. Auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig, vor der Staatsbibliothek, lief ein Tross junger Männer zum Potsdamer Platz hoch. Stern glaubte zu halluzinieren. Alle waren in voller Fußballmontur.
»Heute Nachmittag steigt das absolute Spitzenspiel der Bundesliga«, erklärte Borchert. »Hertha gegen Bayern. Und jetzt dreh dich noch einmal nach links.« Stern gehorchte, bis er einen feuchten Stempel auf seiner rechten Wange spürte.
»Was wird das denn jetzt?«
»Du musst dich ebenfalls verkleiden. Sieht gut aus«, lachte Andi und drehte ihm den Rückspiegel so zu, dass Stern das Vereinslogo in seinem Gesicht erkennen konnte. »Das Olympiastadion ist komplett ausverkauft, und es werden mindestens fünfunddreißigtausend Fans von außerhalb in der Stadt erwartet. Wie du siehst, sind einige schon früher angereist, die ziehen jetzt grölend durch die Stadt. Hier im Auto kannst du vielleicht in deinem Anwaltsanzug sitzen bleiben. Aber da draußen …«, Borchert zeigte durch die Windschutzscheibe auf die Potsdamer Straße vor ihnen, »da draußen gibt es heute keine bessere Tarnung. Hier liegt übrigens der Rest unseres Kostüms.«
Irre. Komplett irre, dachte Stern, als er kurz einen Blick auf
den Rücksitz wagte. Borchert musste einen Fanshop überfallen haben. Von Schals über Trainingshosen bis hin zu Torwarthandschuhen war alles vorhanden. In diesem Aufzugwürde sie niemand erwarten oder gar erkennen. Schon gar
nicht, wenn mehrere tausend Doubles in der Hauptstadt unterwegs waren.
»Ich weiß aber nicht, ob sie uns da so reinlassen.« Stern bog in die Kurfürstenstraße ab und drosselte das Tempo. »Wo rein?«
Er erklärte Borchert seine jüngsten Überlegungen. Laut Simon würde es morgen früh auf irgendeiner Brücke in Berlin zu einem Treffen kommen, bei dem ein Säugling verkauft werden sollte. Robert ging davon aus, dass es sich bei der »Stimme« um den Händler handelte, der jetzt davor gewarnt war, dass er bei der Abwicklung des Geschäftes ermordet werden sollte. So wie seine anderen Komplizen in den Jahren zuvor.
»Wir müssen jemanden fi nden, der uns sagen kann, wer mit Babys handelt. Über den fi nden wir dann die Brücke und damit die »Stimme«. Und dazu müssen wir uns in gewisse Etablissements begeben …«
Als ihm klar wurde, was er sich mit diesen Worten eingestand, wurde ihm übel. Wenn der Junge mit dem Feuermal etwas mit Felix zu tun haben sollte – wenn es diesen Jungen tatsächlich gab –, dann war sein Schicksal mit dem Kopf einer Verbrecherbande verknüpft, die sich offenbar auch auf Kinderhandel verstand. Mit einem Sadisten, der von einem Rächer gejagt wurde, den Simon in seinen Träumen mit sich selbst verwechselte.
Wieder einmal dachte Stern darüber nach, ob es eine reale Erklärung für diesen Wahnsinn geben konnte. Wieder fragte er sich, ob Felix damals vertauscht oder vielleicht sogar reanimiert worden war. Und wieder musste er alle rationalen Erklärungsversuche ausschließen. Es hatte keinen anderen Jungen auf der Station gegeben, Felix war beerdigt worden, nachdem er eine halbe Stunde tot in Sophies Armen gelegen
hatte. Mit dem Feuermal in der Form Italiens auf der linken Schulter! Er selbst hatte noch einmal in den Sarg geschaut, bevor Felix den Flammen zur Einäscherung anvertraut worden war. Wie er es auch drehte und wendete, die Möglichkeit, dass sein Sohn noch lebte, war in etwa so plausibel wie die Tatsache, dass ein kleiner Junge von Menschen wusste, die lange vor seiner Geburt ermordet worden waren. »Hallo, jemand zu Hause?«
Stern hatte gar nicht bemerkt, dass Borchert ihm offenbar eine Frage gestellt hatte.
»Ich wollte wissen, wie lange Sophie damals allein auf dem Klo war?«
Robert sah seinen Helfer an und war völlig perplex. »Du meinst im Krankenhaus?« Als sie mit Felix auf die Toilette floh?
»Ja. Ich spüre doch, wie dein Gehirn neben mir lauter rattert als der Motor
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