Das Kind
las Stern vor. Das kleine Foto darunter war aus einem Versandhauskatalog ausgeschnitten. Es zeigte ein schmales Holzbett, Modell »Happy Young«, auf dem ein kleiner Junge lag und in die Kamera grinste. Darunter stand in der neutralen Schrift eines Laserdruckers:
Passend f. Kind. zw. 6 und 12 Jhr.
Bett bitte bequem, sauber u. m. Lf.
Eine kalte Übelkeit stieg in Robert hoch. »Das glaub ich nicht.«
Borchert hob die Augenbrauen. »Hand aufs Herz – wann hast du das letzte Mal eine Kleinanzeige an das Kundenbrett eines Supermarkts geheftet?«
»Noch nie.«
»Und wie viele kennst du, die sich auf so etwas schon mal gemeldet haben?«
»Keinen.«
»Trotzdem sind die Bretter voll mit diesen Zetteln, rich tig?«
»Du willst mir doch nicht sagen, dass …« »Doch. Zum Teil sind das die Kontaktmärkte der Kranken und Irren unserer Stadt.«
»Das kann ich nicht glauben«, wiederholte Stern. »Dann schau einfach besser hin. Hast du schon mal eine so lange Telefonnummer gesehen?«
»Hm. Ungewöhnlich.«
»Nicht wahr. Und ich wette, wir landen bei einem libanesischen Prepaidkartenbesitzer oder so. Ein Wegwerfhandy. Keine Chance, an irgendeinen Namen dahinter zu kommen. Und hier …«, Andi zeigte auf die Bildunterschrift, »… das ist eindeutiger Pädo-Slang. ›Bequem‹ bedeutet: ›mit Einwilligung der Eltern‹. Und ›sauber‹ heißt: ›möglichst Jungfrau oder mit Aidstest‹. Und sie wollen es ›m. Lf.‹ , also mit Lieferung frei Haus.«
»Bist du dir sicher?« Stern fragte sich, ob es zu seiner Fußballtarnung passen könnte, sich in den Altpapiercontainer neben ihm zu übergeben.
»Nein. Aber wir werden es gleich herausfi nden.« Borchert zog ein Handy aus der Tasche, das Stern noch nie zuvor bei ihm gesehen hatte, und wählte die achtzehnstellige Nummer.
3.
J a, hallo?«
Schon die ersten beiden Worte zerstörten Sterns Erwartungshaltung. Er hatte mit einem älteren Mann gerechnet, dem man seine Verwahrlosung schon an der Stimme anhörte. Jemand, der seine fettigen Haare von hinten nach vorne kämmte und mit einem Feinrippunterhemd bekleidet beim Telefonieren auf seine pilzigen Fußnägel starrte. Doch stattdessen fl ötete ihm eine helle, freundliche Frauenstimme ins Ohr.
»Ehm, also, ich …« Robert fi ng an zu stottern. Borchert hatte ihm einfach den Hörer weitergereicht, als das verrauschte Freizeichen ertönte. Jetzt wusste er nicht, was er sagen sollte.
»Entschuldigen Sie, ich glaube, ich habe mich verwählt.« »Rufen Sie wegen der Anzeige an?«, fragte die namenlose Frau. Sie klang höfl ich, gebildet, ohne jede Spur eines Berliner Akzents.
»Äh … ja?«
»Tut mir leid, mein Mann ist zurzeit nicht da.« »Ach so.«
Sie hatten den Supermarkt verlassen und waren auf dem Rückweg zu ihrem Auto. Stern musste sich auf jedes Wort konzentrieren, damit es nicht vom Verkehrslärm der Potsdamer Straße oder den knisternden Störgeräuschen der schlechten Verbindung verschluckt wurde.
»Aber Sie haben das, wonach wir suchen?«, fragte sie. »Vielleicht.«
»Wie alt ist es denn?«
»Zehn Jahre alt«, sagte Stern und dachte an Simon.
»Das würde passen. Aber Sie wissen, wir suchen nach einem Bett für Jungen.«
»Ja. Hab ich gelesen.«
»Gut. Wann können Sie es liefern?«
»Jederzeit. Heute noch.«
Sie kamen wieder an dem grauen Stromkasten vorbei, auf dem vorhin die Prostituierte auf Kundschaft gewartet hatte. Das magere Mädchen war nicht mehr zu sehen und hockte vermutlich gerade auf irgendeinem Beifahrersitz in einer Nebenstraße.
»Schön. Dann schlage ich vor, wir treffen uns um sechzehn Uhr, um den Vertrag zu besprechen. Kennen Sie das ›Madison‹ am Mexikoplatz?«
»Ja«, sagte Stern mechanisch, obwohl er noch nie in diesem Café gewesen war. »Hallo? Sind Sie noch dran?« Als er keine Antwort bekam, gab er Borchert das Handy zurück.
»Und?«, fragte der sofort. Doch Stern brauchte erst einmal einige Atemzüge, um sich zu beruhigen. Schließlich antwortete er wie in Trance:
»Ich weiß nicht. Es klang wie ein normales Telefonat. Eigentlich haben wir nur über ein Bett gesprochen.« »Aber?«
»Aber die ganze Zeit fühlte ich, es ging um etwas ganz anderes.« Stern wiederholte ihm die Unterhaltung fast wörtlich.
»Siehst du?«, sagte Borchert.
»Nein. Ich sehe im Moment gar nichts«, log Stern. In Wahrheit hatte sich sein Blick auf die Welt, in der er lebte, soeben drastisch verändert. Borchert hatte im Supermarkt einen Vorhang angehoben und ihn hinter die Bühne, auf die dunkle Seite des
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