Das Kind
Lebens schauen lassen, wo die Menschen ihre antrainierten
Masken aus Moral und Gewissen ablegten und ihr wahres Gesicht zeigten.
Stern war nicht naiv. Er war Anwalt. Natürlich kannte er das Böse. Doch bis jetzt hatte es sich für ihn hinter Schriftsätzen, Urteilen und Gesetzestexten versteckt. Ein Grauen dieser Art, das ihn zu verschlucken drohte wie ein schwarzes Loch, konnte er nicht mehr neutral durch den Filter eines berufl ichen Mandats betrachten. Für die Bearbeitung dieses Falles würde er sich selbst die Rechnung ausstellen müssen, und er ging fest davon aus, dass der Stundensatz sein emotionales Budget sprengen würde.
Borchert öffnete die Wagentür und wollte einsteigen, doch Roberts schneidende Frage ließ ihn innehalten. »Woher hast du deine Informationen?«
Andi kratzte sich unter der Mütze und nahm sie schließlich ab. »Das hab ich doch schon erklärt.«
»Quatsch. Jemand, der Pornos dreht, weiß noch lange nicht über die neuesten Trends in der Kinderschänderszene Bescheid.«
Borcherts Miene verfinsterte sich, und er stieg ein. »Noch mal: Warum weißt du so viel darüber?«, fragte Stern und setzte sich neben ihn auf den Beifahrersitz. »Glaub mir, das willst du gar nicht hören.« Andi startete den Motor und sah in den Rückspiegel. Sein Hals bekam rote Flecken. Dann sah er zu Stern hinüber und presste resigniert seine Lippen zusammen.
»Na schön. Wir müssen Harry eh einen Besuch abstatten.« »Wer ist Harry?«
»Eine meiner Quellen. Er wird uns eine Empfehlung geben.«
Borchert scherte aus der Parklücke aus und hielt sich an die Geschwindigkeitsbegrenzung, um ja nicht wegen einer Lap palie in eine Kontrolle zu geraten.
»Was für eine Empfehlung, zum Teufel?«
Jetzt wirkte Borchert ernsthaft erstaunt. »Ja, glaubst du etwa, du kannst heute Nachmittag in diesem Café aufkreuzen ohne einen Nachweis, dass du einer von ihnen bist?« Stern schluckte.
Einer von ihnen.
Er griff nervös nach einem Ende des Fußballschals und zog es langsam nach unten. Ohne zu spüren, wie die Baumwollfasern sich immer enger um seinen Hals schlossen. Die Vorstellung, etwas tun zu müssen, um Mitglied in dieser Gemeinschaft von Perversen zu werden, schnürte ihm ohnehin schon die Luft ab.
4.
H underte von Hauptstadttouristen fuhren Tag für Tag
durch die Gegend, wo Harry sein armseliges Leben fristete. Die Urlauber kamen bis auf wenige Meter an seine Behausung heran, noch erschöpft von der Anreise, aber in nervöser Vorfreude auf das, was ihnen Berlin in den nächsten Tagen bieten würde. Sie wollten sich ins Nachtleben stürzen, den Reichstag besuchen oder einfach nur im Hotel bleiben. Aber ganz sicher planten sie keinen Abstecher zu den elf verdreckten Quadratmetern, wo Harry auf seinen Tod wartete.
Sein Wohnwagen stand direkt unter einer Autobahnbrücke, höchstens einen Kilometer vom Flughafen Schönefeld ent fernt. Stern hatte Angst, Sophies Corolla wäre den Schlaglöchern nicht gewachsen, als sie in den Behelfsweg einbogen. Der Wagen ächzte wie eine Cessna im Landeanfl ug. Schließlich hatte Borchert ein Einsehen, und sie parkten hinter einem verbogenen Maschendrahtzaun. Die letzten einhundert Meter gingen sie zu Fuß, und Stern war zum ersten Mal für die festen Fußballschuhe dankbar, die ihm Borchert aufgenötigt hatte. Es regnete wieder, und der Boden verwandelte sich immer mehr in einen schlammigen Acker. »Wo steckt er denn?«, fragte Stern, der Harrys Behausung immer noch nicht entdeckt hatte. Das Einzige, was er sah, war ein wilder Müllhaufen zwischen zwei gewaltigen Stahlbetonträgern. Der Lärm der Autos, die dreißig Meter über ihren Köpfen vorüberdonnerten, war fast so unerträglich wie der beißende Geruch, der immer stärker wurde, je weiter sie voranschritten. Ein penetranter Mix aus Hundekot, verfaulten Lebensmittelresten und abgestandenem Brackwasser.
»Immer geradeaus. Wir laufen direkt drauf zu.« Borchert zog die Schultern hoch. Wie Stern hatte er Schal und Mütze im Auto liegengelassen, und jetzt klatschte ihnen der Regen von hinten in den Nacken.
Robert hatte den nikotingelben Campingwagen hinter dem Sperrmüllberg immer noch nicht gesehen, als plötzlich ein Mann in einem verfi lzten Bademantel hinter einem Berg ausgemusterter Autoreifen hervortrat. Er war etwas größer, aber wesentlich dünner als Borchert. Ganz eindeutig hatte er seine ungebetenen Gäste noch nicht bemerkt, denn er nestelte umständlich an seinem Schritt herum, rülpste laut und urinierte dann auf
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