Das Kind
hielt, veränderten sich die
Außengeräusche. Der Motor wurde lauter und klang wie von nahe stehenden Metallwänden refl ektiert. Gleichzeitig kam es Stern so vor, als würde ihm eine weitere Sichtblende über die Augen gezogen.
Er hatte versucht, die Kurven zu zählen, doch durch die zahlreichen Fahrbahnwechsel des Wagens war das nicht möglich gewesen. Ebenso hatte seine innere Uhr versagt. Als ihm die Augenbinde abgenommen wurde und er die Garage erkannte, in der sie standen, konnte er nicht sagen, ob sie zehn Minuten oder noch länger gefahren waren. »Alles okay?«, fragte er Simon, bemüht, nicht zu freundlich zu klingen. Immerhin musste eine Fassade aufrechterhalten werden. Der Kleine nickte und rieb sich die Augen, die sich nur langsam an das Licht der Halogenstrahler über ihren
Köpfen gewöhnten.
»Hier entlang, bitte.«
Die Frau war schon vorangegangen und hatte eine graue Feuerschutztür geöffnet, hinter der eine Treppe nach oben führte. Ihre Stufen waren aus glänzendem Marmor mit einer Maserung, die an karamellisiertes Vanilleeis erinnerte. »Wohin gehen wir?«, fragte Stern und räusperte sich. Sie hatten die gesamte Fahrt über kein Wort miteinander geredet, und jetzt war sein Rachen trocken. Vor Aufregung. Und vor Angst.
»Die Garage hat einen direkten Zugang zum Haupthaus«, erklärte die Frau und ging voran. Tatsächlich mündeten die steilen Stufen in einen von künstlichem Licht überfl uteten Eingangsbereich. Stern musste zugeben, dass das mit Edelholzparkett ausgestattete Entree ihn an seine eigene Villa erinnerte. Nur dass es bei ihm keine Garderobenmöbel gab und erst recht keine Amaryllispfl anzentöpfe in der Gegend herumstanden. Er konnte nur hoffen, dass Borchert sich seinen Weg hier irgendwie hineinbahnen konnte. Er würde seine Waffe oder das Stemmeisen aus dem Kofferraum benötigen. Vermutlich beides zusammen, wenn er die schwere, messingbeschlagene Haustür überwinden wollte. Die Fenster der Villa waren mit blickund einbruchsicheren Alurollos von außen abgesichert. Allesamt, soweit Robert dies beurteilen konnte. Auch im Wohnzimmer, in das Stern und Simon als Nächstes geführt wurden.
»Bitte setzen Sie sich, mein Mann kommt gleich.« Stern zog Simon zu einer weißen Ledercouch. Die Frau tippelte derweil etwas ungelenk auf den Ballen ihrer hochhackigen Schuhe zu einem kleinen Sekretär, auf dem Spirituosen und etwas Knabberzeug standen.
Stern wunderte sich über ihre merkwürdige Gangart und
dachte zuerst, sie wolle keinen Lärm erzeugen. Doch dann, gerade als sie sich einen Gin Tonic mixte, sprang ihn die Erkenntnis an: Es ging nicht um die Geräusche. Sie wollte das frisch geölte Parkett nicht mit ihren Pfennigabsätzen zerkratzen! Das hier war kein bewohntes Haus. Sie befanden sich gerade in einer Mustervilla. Ein noch unvermieteter, prachtsanierter Altbau. Freundlich eingerichtet, aber ohne persönliche Note. Stern ließ seinen Blick schweifen und erkannte die Details jetzt ganz deutlich. Das kabellose Telefon auf dem Schreibtisch. Die akkurat ausgerichteten Lederbuchrücken in dem halbleeren Regal. Das Ledersofa, auf dem erst wenige Leute Platz genommen hatten, um sich von einem Makler den Grundriss des Anwesens zeigen zu lassen. Stern wäre jede Wette eingegangen, dass es genau derselbe Makler war, der auch das Café am Mexikoplatz in seinem Angebot hatte.
»Darf ich Ihnen auch etwas anbieten?«
Er schüttelte den Kopf. Alles, was ihm an grauen Zellen zu Gebote stand, rotierte momentan unter seiner Schädeldecke. Es war perfekt. Die Vorgehensweise des Pärchens war von morbider Genialität. Hier gab es nichts, woran ein Opfer sich später erinnern konnte. Nichts von Wert, das nicht austauschbar wäre, wenn es mit Blut oder anderen Körpersäften befl eckt wurde. Und niemanden, der sich über eine intensive Grundreinigung des gesamten Anwesens wunderte, bevor es an die neuen Eigentümer übergeben wurde. Die dann natürlich keine Ahnung davon hatten, was in den Räumen geschehen war, in denen sie nach dem Einzug von einer glücklichen Zukunft träumten.
Stern wurde speiübel, als er erkannte, wie sinnbildlich die unechte Kulisse dieses Hauses für die gesamte Situation war, in der er seit wenigen Tagen steckte. Alles war ein Schau spiel: Simons unerklärliches Wissen über die Morde in der Vergangenheit und seine absurde Absicht, in der Zukunft zu töten. Die DVD mit der Stimme, die behauptete, sein Sohn könnte noch leben. Und die unklare pädophile Verbindung, die
Weitere Kostenlose Bücher