Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Kind

Titel: Das Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sebastian Fitzek
Vom Netzwerk:
gewusst, womit die Waffe geladen war, fol gerte Stern. Die beiden Irren taten nur so cool. Sie waren schlichtweg unerfahren. Vermutlich hatten sie die Pistole noch nie zuvor überprüft. Und die Premiere war soeben fehlgeschlagen.
Stern versuchte aufzustehen, und was dann passierte, war ebenso wenig beabsichtigt wie die Chlorgaswolke. Er taumelte, der Boden glitt unter seinen Füßen weg, und in der Annahme, einen Schritt in den Flur zu tun, trat er ins Nichts und stürzte die Treppe hinunter.
Ein stechender Schmerz durchzuckte seinen Rücken, als er nur zwei Stufen tiefer wie ein Torpedo auf die Frau prallte. Das Gepolter im Treppenhaus war jetzt so laut, dass er nicht mehr auseinanderhalten konnte, wessen Körperteile für die dumpfen Geräusche verantwortlich waren. Zum zweiten Mal in Folge knallte sein Kopf gegen etwas Hartes, vermutlich eine Stufe. Blut schoss ihm aus der Nase. Dann rutschte er bäuchlings nach unten, und plötzlich bestand sein linkes Bein nur noch aus Schmerzen. Der Fuß hatte sich während des Sturzes im Geländer verhakt, und nun hing sein gesamtes Körpergewicht am Knöchelgelenk.
Bänderriss. Außenbanddehnung. Kapselbruch. Der Intensität der Stiche nach hatte er alles auf einmal, doch das war ihm egal. Nachdem er sich vorsichtig befreit hatte, konnte er durch die Tränenwolke vor seinen Augen erkennen, dass es seine Gegnerin am Fuße der Treppe wesentlich schlimmer erwischt hatte: Sie regte sich nicht mehr, und ein Knie wie auch der Rest des Körpers sahen unnatürlich verdreht aus. Stern zog sich am Geländer hoch, zuckte wie vor dem Bohrer des Zahnarztes zurück, als er versuchte, seinen linken Fuß aufzusetzen, und sprang auf einem Bein die Treppe hoch. Seine Schleimhäute schienen sich brennend von selbst aufzulösen.
Dritte Tür rechts, hatte sie gesagt. Der Hinweis war unnötig.
In seinem Zustand konnte er ohnehin nur noch akustisch wahrnehmen. Noch immer schmetterte die Oper durch die massive Eichenholztür, an deren Klinke Stern jetzt rüttelte. Abgeschlossen.
Robert traf seine Entscheidung in Sekundenbruchteilen. Er lief zurück, ignorierte den brutalen Schmerz, der bei jedem Tritt Stahlnägel in sein linkes Bein trieb. Dann griff er sich den Kübel, den er kaum anheben konnte, da er statt mit Blumenerde mit schweren, weiß gewaschenen Kieselsteinen gefüllt war. Zog ihn erst einige Meter hinter sich her, stemmte ihn kurz vor dem Ziel hoch und wuchtete ihn dann, ohne dabei auf das Knacken seiner Rückenwirbel zu achten, mit beiden Händen genau auf die Stelle der Tür, wo sie am leichtesten zu beschädigen war. Die Klinke brach ab, und mit ihr lockerte sich das einfache Türschloss. Stern warf sich mit der nackten Schulter gegen das nachgebende Türblatt. Einmal. Zweimal. Bis er endlich schmerztrunken in den Raum torkelte.
Das Szenario, das dort auf ihn wartete, war schlimmer als alles, was er je zuvor in seinem Leben gesehen hatte. In ihm war ein einziger Schrei: Zu spät! 20.
Z uerst sah er den Mann. Nackt. Schweißgebadet und vor
Schreck paralysiert. Seine nur langsam schwindende Erregung schien jeglichen Fluchtrefl ex in ihm betäubt zu haben. Stattdessen hielt er lediglich beide Arme abwehrend vor sein Gesicht.
Stern drehte sich zum Bett und begriff, dass es sich bei der gesichtslosen Gestalt um Simon handelte, der gefesselt, mit einer billigen Supermarkttüte über dem Kopf, reglos auf einer zerschlissenen Matratze lag.
»Ich kann das alles erklären …«, setzte das Schwein an, während Stern, blind vor Tränen, Wut und Schmerz, auf die Kamera zuhumpelte, das Stativ wie einen Baseballschläger umfasste und ihm mit einem schnellen Schwung den Kiefer brach. Der Mann sackte nach hinten und riss beim Fallen die Musikanlage zu Boden. Verdis Musik erstarb in dem Moment, als Stern ans Bett hechtete, Simons Kopf packte und ihm ein Luftloch in die Tüte riss.
Dann wollte er schreien. Vor grenzenloser Erleichterung. Er hatte alles falsch gemacht und am Ende doch nicht verloren. Zumindest nicht Simon. Der Kleine hustete wie ein Schiffbrüchiger, den man gerade aus dem Wasser gezogen hat, und wollte gar nicht mehr damit aufhören. Für Stern waren die saugenden Pfeifgeräusche, mit denen Simon wieder Sauerstoff in seine Lungen pumpte, schöner als jede Symphonie.
»Es tut mir leid, es tut mir so leid«, stieß er hervor und zog den Jungen zu sich heran, der jetzt aufrecht im Bett saß. Mittlerweile hatte er ihn völlig von der Plastiktüte befreit und hielt seinen Kopf wie eine

Weitere Kostenlose Bücher