Das Kindermädchen - Herrmann, E: Kindermädchen
Idylle? Das traute Heim, das spielende Kind? Ich muss Sie enttäuschen. Wir waren eine nationalsozialistische Familie.«
Sie nahm das Foto und warf einen gleichgültigen Blick darauf. »Die liebende Mutter war von der Partei nicht erwünscht. Die werfende ja. Ich konnte nach Utz keine Kinder mehr bekommen. Aber viel davon gehabt hätte ich auch nicht. Ich war nicht die Erziehungsberechtigte, das war der Jungscharführer.«
Sie stellte den Rahmen zurück. »Erwarten Sie nicht, von mir irgendetwas über Gefühle zu hören. Außer über den Stolz. Ich war stolz auf Utz. Er war ein überzeugter, tapferer Junge. Er war gerne in der HJ. Er hat alles geglaubt, was man ihm erzählt hat. Ich sage Ihnen nichts Neues, wenn ich behaupte, dass das nicht nur die Kinder taten.«
Sie hielt mir ihr Glas entgegen, und ich goss nach.
»Wir hatten eine Weile gute Kontakte zu dem Direktor einer Kugellagerfabrik. Die Mädchen kamen halbtags, und keine hat geklagt. Sie hatten es gut bei uns. Sie haben zu essen bekommen, sie wurden gekleidet. Irgendwann kam ein missgünstiger Nachbar dahinter und beschwerte sich lauthals. Da waren die Mädchen weg. Mein Mann war zu dieser Zeit in Belgien stationiert, beim Müllruntertragen konnte er mir also nicht helfen. Wenn Sie glauben, unser Name hätte etwas genützt auf dem Arbeitsamt, täuschen Sie sich. Das hatte alles sein Recht und seine Ordnung. Alles.«
Mein Bier war schal geworden, aber das allein erklärte nicht den schlechten Geschmack auf meiner Zunge.
»Es war schwierig, jemanden zu bekommen. Auf dem Arbeitsamt
boten sie nur noch den Ausschuss an. Ihre Natalja war, wenn ich mich recht erinnere, ein kräftiges Mädchen. Sie konnte zupacken. Und sie hatte diese slawische Art an sich, mit Kindern umzugehen. Mit Kindern konnten sie ja alle. Die Polen, die Russen und die Ukrainer. Sie hat sich sehr um Utz gekümmert. Mir war es recht, ich hatte genug zu tun. Ich habe gar nicht mitbekommen, dass der Junge irgendwann nicht mehr alles glaubte, was man ihm erzählte.«
»Was, zum Beispiel?«
Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. »Unwichtig. Propaganda. Untermenschengefasel. Ich habe meine Mädchen immer als Menschen behandelt. Ich war hart, aber gerecht. Gute Arbeit, guter Lohn. Zehn Mark bekam sie im Monat. Wissen Sie was? Glauben Sie ja nicht alles, was man Ihnen heute weismachen will. Das Dritte Reich war kein rechtsfreier Raum. Es gab Regeln, Vorschriften und Gesetze. An die hat man sich gehalten. Wenn die Mädchen arbeiteten, gab es auch zu essen. Und zwar genau das, was ihre Marken hergaben. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Bei den Familien ging es ihnen immer noch besser als im Lager. Viele wollten gar nicht mehr weg. Auch diese Natalja nicht. Wir haben sie Paula genannt. Das war einfacher. Alle unsere Mädchen hießen Paula. Wir haben ihr erst mal beigebracht, wie ein Wasserklosett funktioniert. Und dass man sich unter und nicht auf eine Decke legt. Ich glaube, sie wäre gern geblieben bei uns, diese Paula. Aber ich habe viel zu spät bemerkt, warum. Viel zu spät.«
Sie schloss die Augen. Einen Moment sah sie aus, als ob sie einschlafen würde. Das hätte gerade noch gefehlt.
»Warum?«, fragte ich etwas lauter.
Sie schreckte hoch und schien etwas verwirrt. »Was?«
»Was war mit Natalja?«
Sie hatte den Faden wiedergefunden und straffte die knochigen Schultern. »Was sehen Sie vor sich?«
Ich sah die Paradiesvögel und die Fotografien und die halbleere Sherryflasche. »Ich sehe Sie, Freifrau.«
»Nein«, lachte sie bitter. »Das hier ist nur noch eine faltige, leere Hülle. Aber was ich einmal war, das sehen Sie nicht.«
»Doch.«
Ich deutete auf das Foto. »Sie waren eine schöne Frau.« »Wir waren viele schöne Frauen in einem Land ohne Männer. Glauben Sie wirklich, wir waren so tugendsam und haben gewartet, bis ein Kondolenzbrief ins Haus kam? Nein. Wir sind auf die Suche gegangen. Überall. Wir haben am Bahnhof gesucht, in der Nähe der Lager, in Bars und Restaurants, um die Universitäten sind wir herumgeschnürt wie Wölfinnen auf der Jagd. Es war gefährlich, aber das erhöhte den Reiz. Manche machten es nur mit Franzosen. Andere hatten einen Narren an den Polen gefressen. Es gab welche, die angelten sich einen Chinesen. Man nahm, was man kriegen konnte. Überrascht?«
»Nicht sehr«, antwortete ich.
»Mir persönlich waren die Deutschen lieber. Aber es war schwer, einen zu bekommen. Die Frauen, die sie erwischt haben, wurden umerzogen. Das kleinere
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