Das Kindermädchen - Herrmann, E: Kindermädchen
ihr. »Warum haben Sie damals, als diese alte Frau aus der Ukraine gekommen ist, nicht einfach den Zettel unterschrieben und die Sache auf sich beruhen lassen?«
»Ist das alles, was Sie umtreibt? Das nicht erfolgte Geständnis einer kleinen, unbedeutenden Schuld? Aufgeladen in einer Zeit, in der Todsünden zum Alltag gehörten? Haben Sie nichts Besseres zu tun?«
»Ich denke, dass es um weitaus mehr als diese kleine Schuld geht. Ich will wissen, was damals zu Natalja Tscherednitschenkowas Verhaftung geführt hat. Und welche Rolle Utz dabei gespielt hat.«
Sie hob ihr leeres Glas und hielt es mir hin. Ich goss ihr eine ordentliche Ration ein.
»Welchen Nutzen ziehen Sie daraus?« Sie musterte mich scharf
mit ihren grauen Wasseraugen. Auch als sie das Glas hob und zur Hälfte leerte, ließ sie mich nicht aus dem Blick.
»Keinen direkten«, erwiderte ich. »Er ist eher ideeller Natur. In unserer Familie achtet man sehr auf den Ruf. Nehmen Sie es einfach als Prüfung Ihres Leumundes.«
Sie lachte. Keuchend und wie eingerostet, so als ob sie schon ewig nicht mehr gelacht hätte. »Sie … prüfen … unseren Leumund? « Sie wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel und hatte sichtlich Mühe, wieder zu sich zu kommen. »Nein, also …«
Sie trank ihr Glas leer und beruhigte sich langsam wieder.
»Sigrun ist von Natur aus nicht humorvoll. Das hat sie von mir. Sie hat sich immer einen Mann gewünscht, der sie zum Lachen bringt. Ich erkenne langsam, dass ich mich in der Art Ihrer wenigen Qualitäten sehr verschätzt habe. Sie liegen wohl doch zum Teil über der Gürtellinie.«
»Noch einen?«, fragte ich.
Sie wurde sofort ernst. Verbrüderungen waren zwischen uns definitiv nicht angesagt. Ihr Nicken kam deshalb umso hoheitsvoller. Ich nahm die Flasche dieses Mal gleich mit und stellte sie zwischen uns auf den Boden. Sie beobachtete mich missbilligend, sagte aber nichts.
»Olga Warschenkowa ist tot. Milla Tscherednitschenkowa liegt schwer verletzt auf der Intensivstation. In Kiew wartet eine Frau darauf, für die verlorenen Jahre ihres Lebens ein paar hundert Euro Entschädigung zu erhalten. Das Schlimmste aber ist: Mein Porsche wurde demoliert. Und da hört für mich der Spaß definitiv auf. Das alles hat einen gemeinsamen Nenner: Nataljas Zeit in Ihrer Familie. Die Zeit, die sie mit Utz verbracht hat. Der Grund, warum sie ins Gefängnis kam. Warum Utz sich nicht erinnern will.«
Die Freifrau angelte sich die Flasche und goss sich erneut ein.
»Ich werde es herausfinden, verlassen Sie sich darauf. Und wenn ich irgendetwas finde, das mit einer Todsünde zu tun hat, werde ich dafür sorgen, dass sie gesühnt wird. Denn wenn ich es nicht herausfinde, werden es andere tun.«
Sie sah mich nicht an.
Ich beugte mich zu ihr. »Sigrun ist verwundbarer, als Sie glauben. Gerade jetzt. Die Presse will alles über sie wissen. Und wenn auf der Familienweste irgendwo ein dunkler Fleck ist, man wird ihn finden. Hat Sie Ihnen nichts von dem Fotografen erzählt?«
Sie glitt einen halben Meter zurück, heraus aus meinem Bannkreis.
Ich richtete mich auf. »Natalja ist Ihnen egal. Aber Sigrun?«
Keine Reaktion. Die Freifrau betrachtete einen Paradiesvogel über dem Karaffentischchen. Ich gab es auf und ging zur Tür.
»Setzen Sie sich«, sagte sie barsch.
Ich blieb stehen.
Sie drehte behände ihren Rollstuhl zu mir um. »Sie sagten, Sie wollen herausfinden, warum Utz sich nicht erinnern will.«
Ich nickte.
»Es geht hier nicht um den Willen. Er kann sich nicht erinnern. Setzen Sie sich. Ich werde versuchen, es Ihnen zu erklären.«
Zwar könnte sie das auch etwas freundlicher sagen, aber wenn man diese Aussage an der Barschheit der vorherigen maß, war das schon ein sehr weites Entgegenkommen. Ich nickte und setzte mich wieder.
Sie starrte an mir vorbei auf das Tischchen mit den Fotografien. Silberne Rahmen. Taufen, Hochzeiten, Familienbilder. Sigrun als kleines Mädchen, mit Stupsnase, Affenschaukel und Zahnlücke. Ein blonder Mann in Uniform neben einer kühlen Schönheit: die Freifrau und ihr Gatte. Utz in Matrosenuniform. Vergilbte Aufnahmen diverser Ahnen. Mutter und Sohn.
Ich sah mir das letzte Bild genauer an. Die Freifrau stand hinter
Utz, die Hände auf seine Schultern gelegt, als wolle sie ihn festhalten. Utz als Hitler-Junge, der trotzig in die Kamera starrte, die Lippen aufeinandergepresst, die Augen starr geradeaus.
Die Freifrau hatte bemerkt, dass ich das Bild länger betrachtete.
»Sie suchen die
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