Das Kindermädchen - Herrmann, E: Kindermädchen
Farbe.
Meine Mutter wurde siebzig. Bald würde ich sie nichts mehr fragen können.
»Das muss er uns selbst erzählen«, sagte ich.
Marie-Luise nickte. »Die Antwort könnte der Schlüssel zu dem
sein, was damals passiert ist. Wurde er hinbefohlen, oder ist er freiwillig gekommen? Sind Verwandte mit ihm gegangen, oder hat man den Jungen alleine ziehen lassen? Egal, wie die Antwort ausfällt, es bleibt unübersehbar eine Tatsache: Utz kam genau zur rechten Zeit.«
»Wieso?«
»Natalja Tscherednitschenkowa wurde am 14. November 1944 verurteilt. Vermutlich vor einem Sondergericht, und da wurde nicht lange gefackelt. Und Utz kommt und wird Zeuge eines Diebstahls, für den sein Kindermädchen zum Tode verurteilt wird. Lass es so um den elften, zwölften passiert sein. Wenn er zu Fuß gelaufen ist, war er, na?, sagen wir, sechs Wochen unterwegs. Also ist er Anfang Oktober los. Anfang Oktober …«
Das Telefon klingelte, und Marie-Luise ging nach nebenan. Ich wurde nicht schlau aus dem, was sie soeben an Indizien zusammengetragen hatte. Je mehr wir über diesen Fall erfuhren, desto verworrener wurde er.
Plötzlich wollte ich aufgeben, diese ganze Sache einfach vergessen. Ich würde Sigrun um Verzeihung bitten und die Freifrau allein durch meine erneute Anwesenheit in der Villa ins Grab bringen. Ich würde Utz ein guter Schwiegersohn sein. Verena bekäme ihren Ring zurück, und es würde selbstverständlich genau der sein, den sie mir geliehen hatte. Ich würde morgens neben einer Frau aufwachen, die selbst im Tiefschlaf noch eine Schönheit war, und abends unter eine Decke kriechen, die sanfte Hände täglich aufgeschüttelt und frisch bezogen hatten. Diese Hände würden einer Hausgehilfin gehören, deren Namen ich nicht kannte, irgendetwas Polnisches, einer Frau, von der ich nicht wusste, wo sie lebte und ob sie Familie hatte. Und den Porsche könnte ich schon nächste Woche wieder aus der Werkstatt holen.
»Man müsste die Prozessakten des Sondergerichtes einsehen. Ist das irgendwie möglich?«
Sie war wieder da. Die gnadenlose Anwältin längst verjährter,
halbvergessener Verbrechen, für deren Aufklärung niemals auch nur ein einziger Cent in der leeren Kasse klingeln würde.
»Keine Ahnung.«
»Ich frage Ekaterina.« Sie reichte mir ihren Becher, und ich spülte beide aus.
»Er will mich sehen. Soll ich?«
»Gib ihm einen Tritt in den Arsch.«
»Gestohlene Herzen«, seufzte sie. »Wohin man sieht, gestohlene Herzen.«
»Ein Geschenk kann man nicht stehlen.«
Mehr sagte ich nicht. Ich griff nach dem Handtuch und fing an, nach den Bechern auch noch die Spüle zu polieren. Irgendwie mauserte ich mich gerade zum perfekten Hausmann.
Marie-Luise sah mir zu. »Sie hat dich wieder mal vorgeführt, stimmt’s?«
Ich schwieg.
»Du hast doch die Arbeitsbücher noch?«
»Klar.«
Wir gingen in unsere Büros. Eine Stunde später steckte Marie-Luise den Kopf durch die Tür.
»Ich hab ganz vergessen, dir zu sagen, dass er hierherkommt.«
Ich sah sie an. »Und? Was soll das heißen? Kann ich eine Stunde lang die Küche nicht benutzen, weil ihr den Tisch braucht?«
Sie sah mich bittend an. Ich schlug wütend die Akte zu, an der ich zum Wohle der Menschheit und, nicht zu vergessen, dem Marie-Luises gerade arbeitete. Dann nahm ich meine Jacke und verließ grußlos die Wohnung.
Zum Rudolf-Virchow kam man ohne Auto nicht ganz so schnell. Ich musste mehrmals umsteigen und verfuhr mich, weil ich die S- mit der U-Bahn verwechselte. Ich war für den öffentlichen Nahverkehr nicht geschaffen. Es war früher Nachmittag, als ich
die Intensivstation erreichte und die Schwester fragte, wie es der Patientin in Zimmer 42 – 07 ging. Sie wollte gerade zum Telefon greifen, um den Arzt zu alarmieren, als Horst um die Ecke kam.
»Mensch, Joachim! Das ist ja toll, dass du vorbeikommst.«
Er nickte der Schwester zu. »Das geht schon in Ordnung.«
Sie legte den Hörer wieder auf. Offensichtlich hatte Horst innerhalb kürzester Zeit das Vertrauen der gesamten Station gewonnen.
»Wie geht es ihr?«
»Sie ist einmal kurz aufgewacht.«
Ich zog ihn in den Gang, damit die Schwester unsere Unterhaltung nicht mithören konnte. »Und? Hat sie was gesagt?«
Horst schüttelte den Kopf. »Nein. Sie hat mich gesehen und ist wieder eingeschlafen.«
Kein gutes Omen für eine glückliche Ehe. »Was sagen die Ärzte?«
»Da kann man nichts machen. Warten, warten.«
Wir gingen den Gang hinunter und blieben vor der Scheibe stehen.
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