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Das Kindermädchen - Herrmann, E: Kindermädchen

Das Kindermädchen - Herrmann, E: Kindermädchen

Titel: Das Kindermädchen - Herrmann, E: Kindermädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Herrmann
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sie doch schon fast erwachsen, die Hitler-Jungen. Die haben doch schon mit zwölf an den Flaks gestanden. Irgendetwas ist da gelaufen. Und das hatte mit mehr zu tun als mit ein paar silbernen Löffeln. Da wurde mehr gestohlen. Ein Herz vielleicht. Und die Alte hat das gemerkt. Ein elfjähriger Junge und ein vierzehnjähriges Mädchen … Erinnerst du dich daran, was Ekaterina gesagt hat? Über die Liebe zu den Kindern des Feindes?«
    »Das ist doch Unsinn.«
    »Nein«, antwortete sie energisch. »Am Anfang sind sie Hitler-Junge und Ostarbeiterin. Dann, als er krank wird, Sohn und Mutter. Und am Ende … Bruder und Schwester? Oder Verräter und Opfer?«
    »Dramatisierst du da nicht etwas? Utz war den größten Teil der Berlin-Schlacht in Pommern.«
    Marie-Luise ging zum Fenster. Sie sah hinaus auf die blatternarbige Brandmauer, die immer noch wie vom Krieg geschrammt schien. »Wann ist er nach Berlin zurückgekommen?«
    »Februar’ 45, sagt Sigrun.«

    »Und wann ist Natalja verurteilt worden?«
    »November ’44.«
    »Hast du mir nicht eben erzählt, die Freifrau hätte etwas von einer Aussage von Utz gefaselt, die in dem Prozess gegen Natalja verwendet wurde? Wie passt denn das zusammen?«
    Sie hatte Recht. Die Zeitangaben stimmten nicht. Ich versuchte, mich daran zu erinnern, was genau die Freifrau gesagt hatte. »Dann ist Utz eben früher zurückgekommen. Ob Februar oder November, die Ostfront ist doch immer näher gerückt. Es waren gewaltige Flüchtlingstrecks, das weißt du doch.«
    Marie-Luise murmelte vor sich hin. Sie repetierte etwas, und als sie es komplett zusammenhatte, öffnete sie die Augen und fragte mich: »Wo hat Utz sich im Herbst 1944 aufgehalten?«
    »In Leba, ungefähr hundert Kilometer vor Danzig.«
    »Ich weiß nicht, wie gut du im Geschichtsunterricht aufgepasst hast. Vielleicht habt ihr im Westen ja dieses Thema auch nur gestreift. Uns hat man aber mit dem glorreichen Sieg der Roten Armee bis in den Schlaf verfolgt. Soweit ich weiß, ist Danzig nicht im Januar ’45 gefallen. Das war Königsberg. 13. Januar 1945. Großangriff der weißrussischen Front in Richtung Elbing und Frisches Haff. Mussten wir auswendig lernen. 26. Januar: Beschuss von Königsberg.«
    »Aber die Evakuierungen haben doch schon wesentlich früher begonnen.«
    »30. März ’45: Die 2. Sowjetische Stoßarmee befreit Danzig. März, hörst du? Der Großangriff auf Berlin begann im April. Erst da hat es den Deutschen gedämmert, dass das die kürzesten tausend Jahre der Menschheitsgeschichte gewesen waren. Aber im November ’44 glaubten die Zernikows in Pommern mit Sicherheit noch an Wunderwaffe, Endsieg und Vergeltung. Also frage ich dich: Warum macht sich ein Elfjähriger auf den Weg nach Berlin? Warum läuft ein Elfjähriger los, um in eine Stadt zu kommen, die unter Bombenteppichen erstickt
wird? Um in einem Prozess gegen einen Menschen auszusagen, den er liebt?«
    Utz hatte die Geschichte von dem Treck nach Berlin oft erzählt. Nach dem zweiten Mal hatte ich einfach weggehört. Sigrun hatte nachsichtig gelächelt. Wir ließen ihn reden, den Alten. Reden vom Frost, von den langen Fußmärschen, von Feuerschein am Horizont und den rauchgeschwärzten Stadtruinen. Wir hatten diese Erinnerungen mit derselben Ungeduld ertragen, mit der man unwichtige Vorlesungen, endlose Parlamentsdebatten und Konzerte moderner Nachwuchskomponisten über sich ergehen lässt. Man tut es, man ist höflich, man unterbricht nicht, aber man hört weg.
    Ich hatte Utz niemals eine Frage danach gestellt. Auch Sigrun hatte sich mit dem zufriedengegeben, was ihr Vater für erzählenswert erachtete. Und meine Mutter? Sie war zu jung. 1938 geboren. Auch sie hatte ab und zu von Bombennächten erzählt. Von fliegenden Tannenbäumen und Kinderlandverschickung, vom Hunger. Aber ihre Geschichte war die des Wiederaufbaus. Trümmerkinder, die auf Schuttbergen spielten. Die sahen, wie heimlich rot-schwarze Flaggen versteckt, Parteibücher verbrannt, Orden und Abzeichen vergraben wurden. Dann spuckte man in die Hände und arbeitete. Und dann ging es aufwärts Richtung Wirtschaftswunder. Ein Land begrub seine Vergangenheit unter dem Schutt und baute sich ein neues Gesicht. Dann kamen die Kinder der Bundesrepublik, die ihre Eltern und Großeltern einfach nicht mehr fragten, was sich vorher zugetragen hatte. Sie überließen das Erzählen den Profis. Die Fernsehhistoriker packten ihr Publikum gleich nach dem Abendessen und servierten das Dritte Reich in

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