Das Kloster der Ketzer
packte sie kraftvoll in die Zügel und griff mit der anderen Hand zur Bremsstange, um die Kutsche noch rechtzeitig vor der Toranlage zum Stehen zu bringen. Die Kutsche zog eine gewaltige Staubfahne hinter sich her, die sie nun einholte und die aufgeschreckten Wachposten mit einer schmutzigen Wolke einhüllte.
»Nun macht schon das Tor auf!«, rief sie ihnen vom Kutschbock aus mit kehliger Stimme zu und ließ ungeduldig die Peitsche knallen. »Mein Herr, der hochwohlgeborene Domherr Tassilo von Wittgenstein hat es eilig! Oder habt ihr es auf den Augen, dass ihr nicht seht, mit wem ihr es zu tun habt?«
Nun öffnete sich der Kutschenschlag, aber nur so weit, wie es nötig war, damit der Domherr seinen Kopf hinausstecken konnte und die Wachen sahen, dass er es wirklich war. »Warum geht es nicht weiter?«, bellte er. »Na los, macht das Tor auf!«
»Sehr wohl, gnädiger Herr! … Ganz zu Euren Diensten,
gnädiger Herr!«, stieß der ranghöchste der Torwachen eilfertig hervor, machte eine tiefe Verbeugung, die ihren Adressaten gar nicht mehr erreichte, weil da der Kutschenschlag schon wieder zuknallte, und fuhr nun seinerseits seine Untergebenen an, nicht untätig herumzustehen, sondern dem Domherrn endlich das Tor zu öffnen.
»So weit, so gut, wie Bruder Scriptoris sagen würde«, murmelte Lauretia vor sich hin, während sie die Schimmel mit einem Schnalzen und erfahrenem Zügelschlag dazu brachte, sich wieder in Bewegung zu setzen.
Die wappengeschmückte Kutsche ratterte durch die tiefe Toranlage und gelangte nach einigen Gespannlängen zu einem zweiten, nicht weniger gut gesicherten Tor. Dort jedoch bedurfte es keiner Zurufe, damit ihnen Durchlass gewährt wurde. Das Tor schwang schon auf, kaum dass der Blick der Posten auf das Wappen des Domherrn gefallen war.
Mit der Arroganz des domherrlichen Schergen zog Lauretia an ihnen vorbei, schenkte ihnen weder ein Nicken noch einen flüchtigen Blick.
Vor ihr lag nun der große, zentrale und weitläufige Festungshof, von dem aus andere, bedeutend kleinere und winklige Höfe abzweigten. Einige Soldaten niederen Rangs waren gerade damit beschäftigt, vor mehreren Zugängen Laternen aufzuhängen und die Lichter anzuzünden, während zwei Gruppen von Zimmerleuten und Handwerkern eiligst die Werkzeuge auf ihre Wagen luden, um noch rechtzeitig vor dem Schließen der Tore in die Stadt zurückzukehren. Denn inzwischen berührte die Sonne im Westen schon den Horizont und warf einen letzten flammenden Glutschein an den Himmel. Nicht mehr lange, dann würde das rote Lebensfeuer im Westen erlöschen und die Nacht mit ihrer Dunkelheit die Vorherrschaft über Stadt, Land und Festung antreten.
Zielstrebig lenkte Lauretia die Schimmel hinüber in den Seitenhof, von wo aus man hinunter in die finsteren Katakomben des Gefangenentraktes gelangte. Nur wenige Schritte vom Eingang entfernt brachte sie das Gefährt zum Stehen. Zwei Wachen, die bei ihrem Eintreffen in ein vergnügtes Gespräch vertieft gewesen waren, nahmen augenblicklich Haltung an, als sie sahen, wer da vorfuhr. Verwundert schienen sie jedoch nicht zu sein, weder über die späte Stunde noch darüber, dass diesmal nicht Jodok auf dem Kutschbock saß. Sofern ihnen das überhaupt auffiel.
Lauretia bedachte sie nur mit einem knappen Nicken, während sie die Zügel um die eiserne Bremsstange wickelte, sprang behände vom Kutschbock und öffnete den Türschlag. Dabei stellte sie sich so, dass sie den Wachposten den Blick in die Kutsche verwehrte – für den Fall, dass Sebastian beim Aussteigen Schwierigkeiten hatte, den Dolch im Schutz von Tassilos weitem Umhang zu halten.
Lauretia griff dann schnell nach dem Kleidersack und hängte ihn sich über die Schulter. »Lasst Euch helfen, Herr«, sagte sie diensteifrig zum Domherrn und streckte ihm ihre Hand entgegen. »Ihr müsst Euch schonen. Mit einem so übel verstauchten Fuß ist nicht zu spaßen!«
Stumm ergriff Tassilo die ihm dargebotene Hand und stieg aus der Kutsche, sofort gefolgt von Sebastian, der rasch an seine linke Seite trat und seine Dolchhand wieder unter dem Umhang in Position brachte.
Sowohl Lauretias deutlicher Hinweis auf Tassilos vorgetäuschte Verletzung als auch Sebastians Eile erwiesen sich als völlig unnötig. Denn die beiden Männer blickten überhaupt nicht zu ihnen herüber, sondern beeilten sich, dem humpelnden Domherrn die schwere Gittertür zu öffnen.
Als Lauretia nach links über den Hof blickte, fuhr sie
erschrocken zusammen, als sie die
Weitere Kostenlose Bücher