Das Kloster der Ketzer
deshalb, griff zu dem unauffälligen Geldbeutel, den Lauretia ihm beschafft hatte, und löste das Band, um im nächsten Moment zwei Münzen in die ausgestreckte Hand des Krüppels fallen zu lassen. Eine wäre als Almosen schon mehr als genug gewesen, aber er hoffte, durch seine Großzügigkeit das Schicksal für sein Vorhaben gnädig zu stimmen.
Die Augen des Bettlers leuchteten auf, als er sah, dass man ihn nicht mit einem armseligen Pfennig abgespeist hatte, sondern dass ein viertel Silbergulden in seiner Hand lag. »Ihr habt wahrlich ein barmherziges Herz! Habt Dank für Eure große Güte, junger Herr! Und möge Gottes Schutz und Segen Euch allzeit begleiten!«, rief der Bettler ihm aufgekratzt nach.
»Möge es so sein«, murmelte Sebastian und schenkte ihm keine weitere Beachtung mehr, während er sich eilends entfernte. Er hörte noch, wie der Krüppel wieder sein primitives
Rollbrett in Bewegung setzte und offenbar denselben Weg einschlug wie er. Aber schon im nächsten Moment vergaß er die Begegnung mit dem Bettler, drängten sich nun doch wieder die Hoffnungen und Ängste mit aller Macht in sein Bewusstsein zurück, die um seine schwer kranke Ziehmutter und den Erlenhof kreisten.
Er beabsichtigte, sich hinüber in die Ilzstadt zu begeben, die im Flussbogen gegenüber der keilförmigen Ostspitze von Passau lag, wo sich die drei Flüsse Ilz, Inn und Donau trafen und zu einem Strom verbanden. Dort würde er zu dieser Morgenstunde sicherlich einen Bauern oder Fuhrmann finden, der ihn gegen ein gutes Entgelt in eines der Dörfer nahe beim Erlenhof brachte. Und den Rückweg konnte er vermutlich auf einem der kleinen Flussboote machen, die auf der Ilz verkehrten.
Kurz hinter der Krümmung der Straße gelangte Sebastian an eine Ecke, wo sich mehrere Gassen kreuzten. Er blieb stehen, um sich zu orientieren, denn er wusste nur, dass sich die Sägemühle von Meister Dornfeld in der Nähe des Donauhafens und des Fischmarktes befand. Zwar hielt er sich nicht zum ersten Mal in Passau auf, doch seine Ortskenntnis erstreckte sich mehr auf das Herz der Stadt rund um den majestätischen Dom, nicht jedoch auf die Fischer-, Handwerker- und Tagelöhnerviertel mit ihren vielen verwinkelten Gassen.
In seinem Rücken, am anderen Ufer der Donau und hoch auf der vorspringenden Spitze des Georgsberges, thronte die mit Türmen und Zinnen reich bewehrte Trutzburg Oberhaus. Die Festung war nicht nur Bollwerk gegen Feinde der Reichsstadt, sondern auch zu Stein gewordene Mahnung der Herrschenden an die eigenen Untertanen, wie groß die Macht des fürstlichen Bischofsadministrators Herzog Ernst von Bayern und der Herren des Domkapitels über jeden Bürger von Passau war.
Sebastian dachte kurz an Lauretia, die mit dem schwer beladenen Fuhrwerk dorthin unterwegs war. Dann wandte er sich wieder der vor ihm aufsteigenden Stadt zu. Sein Blick suchte und fand die hoch aufragenden Türme der Kathedrale, die sich rechts vor ihm über den Dächern erhoben. Er nahm sie als Orientierungspunkte. Wenn er erst vor dem Dom auf dem Residenzplatz stand, wo viele der besser gestellten Kaufleute und Händler von Passau ihre Wohnhäuser, Läden und Kontore hatten, dann wusste er schon, wie er am schnellsten hinüber zum Rindermarkt am Rand der Neustadt und von dort zur hölzernen Brücke über die Donau kam.
Von den einfachen Tagelöhner- und Handwerkervierteln entlang der Flussufer stieg das Gelände zum Dom und den Bezirken der wohlhabenden Passauer Bürger beachtlich an. Er musste also nur der nächsten Straße folgen, die von den Niederungen aufwärts führte, um in die Nähe des prächtigen Gotteshauses Sankt Stephan zu kommen. Und genau das tat er.
Er stieg die Gasse hoch, und noch bevor er auf den oben liegenden Residenzplatz gelangte, der bei vielen Einheimischen noch immer »Unter den Krämern« hieß, drang ihm schon aufgeregtes Stimmengewirr entgegen. In den umliegenden Gassen und Straßen schlugen Türen und klapperten Holzpantinen in großer Eile durch den Dreck. Man rief sich gegenseitig zu, sich bloß zu beeilen, wollte man das Spektakel nicht verpassen. Männer, Frauen, Kinder und Alte hasteten aus den Häusern, Läden und Werkstätten und strömten auf den Platz vor dem Dom, als stände die Stadt in Flammen.
Doch es war ein Feuer ganz anderer Art, das an diesem Morgen mit unersättlicher Gier über Passau herfiel. Die Flammen dieses heimtückischen Feuers fraßen sich nicht durch das Gebälk von Häusern, sondern leckten mit
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