Das Kloster der Ketzer
Vaterland des Paradieses bringen könnt!«
Sebastian schauderte beim Anblick der Bildtafeln, und er sah auch in den Gesichtern von vielen der Umstehenden Angst und Entsetzen und die quälende Frage, welche schrecklichen und endlosen Qualen wohl ihnen im Fegefeuer drohten, wenn die Stunde ihres Todes kam und sie sich für die Sünden ihres Lebens verantworten mussten. Viele gingen beim Anblick der Fahnen, Banner und Bildtafeln in die Knie und bekreuzigten sich und so manch kleines Kind presste sich angstvoll in das
Kleid der Mutter. Denn kaum einer bezweifelte, dass es eine Hölle gab, deren Teufelsknechte überall auf der Erde nach Beute unterwegs waren und auf den Friedhöfen die Sünder aus ihren Gräbern rissen und hinunter ins Fegefeuer schleppten.
»Seht das Dornenkreuz und hört, ihr Mörder und Räuber, ihr Diebe und Wucherer, ihr Sodomisten und Blutschänder, ihr Huren und Ehebrecher, ihr Lügner und Lasterhaften!«, fuhr der Dominikaner mit beschwörender Stimme fort und deutete mit ausgestreckter Hand hier und da in die Menge, als könnte er den Männern und Frauen ihre Sünden von der Stirn ablesen. »Jetzt ist es Zeit, die Stimme Gottes zu hören, der nicht den Tod des Sünders und ihn im Fegefeuer leiden sehen will, sondern dass er sich bekehre!«
»Verdammt, warum schenkt uns der Papst denn nicht den Ablass, statt ihn landauf, landab gegen klingende Münze zu verkaufen wie ein geldgeiler Krämer!«, murrte jemand vor Sebastian, der wenige Schritte hinter dem Brunnen stehen geblieben war. »Wenn er wirklich Gewalt über die Seelen im Fegefeuer hat, warum räumt er dann nicht mit einem Schlag das ganze Fegefeuer leer, statt die armen Seelen noch weiter leiden zu lassen? Und wenn er unbedingt diesen verdammten Petersdom bauen will, soll er gefälligst sein eigenes Geld dazu nehmen. Er ist doch reich genug, da muss er uns zu allem Übel nicht auch noch...«
»Halt deinen lästerlichen Mund, Johannes!«, fuhr ihn da die Frau an seiner Seite an und zischte: »Willst du zu all deinen Sünden auch noch Blasphemie auf dich laden?«
Doch ein anderer Zuhörer in ihrer Nähe nahm die Kritik am Ablass auf, indem er bissig sagte: »Nützlicher und gottgefälliger wäre es, den Armen und Hungernden Geld zu geben, statt es in die Ablasskästen zu werfen!«
»Was kümmert die hochherrschaftlichen Pfaffen die Armut? Und dass in Rom für Geld alles zu haben ist, von der Domherrnstelle mit satten Pfründen über ein Bistum bis zum Kardinalshut, weiß doch schon jedes kleine Kind!«, schimpfte da hinter Sebastian eine krächzende Stimme.
Als Sebastian sich umdrehte, sah er zu seiner Überraschung den verkrüppelten Bettler. Er hatte sich mit der Kraft seiner Arme auf den breiten Brunnenrand geschwungen, um ebenfalls einen Blick auf das Geschehen weiter vorne werfen zu können.
Aber wenn der Krüppel und die beiden anderen Kritiker mit ihren Kommentaren auch einigen aus der Seele sprachen, so wollten sich viele andere jedoch nicht im Glauben beirren lassen, dass auf dem päpstlichen Ablass göttlicher Segen ruhte, und einige zischten und warfen ihnen strenge, missbilligende Blicke zu. Einer fauchte aufgebracht in Richtung des Krüppels auf dem Brunnenrand: »Hat Gott dich noch immer nicht genug bestraft, du Lumpenkerl? Willst du seinen Zorn noch mehr herausfordern?«
Der Krüppel antwortete mit einer obszönen Geste und spuckte demonstrativ aus.
Indessen fuhr der Ablassprediger vom Wagen herab eindringlich fort: »Heute abend zur Stunde der heiligen Vesper könnt ihr dort drüben im Dom die Vergebung eurer Sünden erlangen – für eure Verstorbenen, aber auch für euch selbst. Mit nur vier Gulden könnt ihr dank der päpstlichen Gnade, die euch den unermesslichen Heilsschatz der Kirche durch den Ablass gewährt, beispielsweise die Sünde des Ehebruchs aus der Welt schaffen! Diese Sünde hat, wie ihr wisst, einige tausend Jahre an Qual im Fegefeuer zur Folge. Und nun sagt, was ist ein wenig irdischer Mammon gegen den Erlass unvorstellbarer, ewiger Folterqualen?«
»Und was kostet Unzucht mit einer Nonne?«, rief eine spöttische Stimme aus der Menge.
Hier und da erhob sich Gelächter, doch der Ablassprediger sah keinen Grund, sich empört zu zeigen. Dass in vielen Klöstern die strengen Regeln nicht mehr eingehalten wurden und sogar Unzucht getrieben wurde, gehörte zum Wissen der Straße.
»Der ist mit zehn Gulden gesühnt!«, antwortete der Dominikanermönch trocken und geschäftsmäßig. Und dann führte er
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