Das Kloster der Ketzer
keinem Vormund und auch keinem anderen Herrn Gehorsam schuldig und damit frei in deiner Entscheidung?«, vergewisserte sich der Novizenmeister.
»Ja, ehrwürdiger Pater.« »Gut, dann nimm Platz und erzähl mir, wer du bist, woher du kommst und was dich zu dem Entschluss geführt hat, in unser Kloster einzutreten!«, forderte ihn der Mönch auf, setzte sich in den bequemen Lehnstuhl und wies auf den Stuhl zu seiner Rechten. »Übrigens brauchst du nicht ›ehrwürdiger‹ Pater zu mir zu sagen. Diese Anrede gebührt allein unserem Vater Abt Adelphus. Wir anderen sprechen uns gegenseitig schlicht mit Bruder an, egal ob wir die priesterlichen Weihen empfangen haben oder nicht. Und nun erzähl!«
Mit erst unsicherer, stockender Stimme begann Sebastian seine angebliche Lebensgeschichte als heimatloser Waisenjunge zu erzählen, den ein gnädiges Schicksal nach Jahren bitterer Armut und Ausbeutung schließlich in die Obhut eines gelehrten Vaganten und Scholaren geführt hatte. Er überwand
seine Nervosität jedoch bald und fand zu einer gefestigten Stimme. Und dank Lauretias ausführlicher Unterweisung vermochte er seinen Bericht mit vielen Einzelheiten auszuschmücken, so dass sein aufmerksamer Zuhörer offenbar keinen Anlass fand, die Glaubwürdigkeit seiner Ausführungen in Zweifel zu ziehen und kritische Fragen zu stellen.
Bruder Scriptoris horchte jedoch auf, als er hörte, dass Sebastian sich nicht nur auf Schreiben und Lesen verstand, sondern auch Latein und Griechisch beherrschte.
»Auch darin hat dich der Wanderscholar unterrichtet? Nun, dann wollen wir doch gleich mal sehen, wie gut du in diesen Sprachen bist, Laurentius.« Er beugte sich vor, zog ein dickes Buch hervor, das mit einem prächtigen, safranfarbenen Ledereinband versehen war, und schlug es an einer beliebigen Stelle auf. »Das ist eine lateinische Schriftensammlung der heiligen Katharina von Siena 10 , du wirst bestimmt schon mal von ihr gehört haben. Hier, übersetze mir diesen Abschnitt aus ihrem Brief an Papst Gregor XI. vom Frühjahr 1377, in dem sie ihm die Nachteile beschreibt, die die weltliche Macht der Kirche mit sich bringt!« Er reichte ihm das Buch und deutete auf einen gut zwölfzeiligen Absatz. »Und keine falsche Hast. Nimm dir Zeit und mach dich erst mit dem Text vertraut.«
Sebastian nahm das Buch entgegen und vertiefte sich einen Moment in den lateinischen Text. Dann fasste er sich ein Herz und begann bedächtig, aber doch fließend zu übersetzen.
»›Im Namen des gekreuzigten Jesus Christus und Unserer Lieben Frau! … Heiligster und hochwürdiger Vater in
Christus Jesus! Eure unwürdige Tochter Katharina, Dienerin und Magd der Diener Jesu Christi, schreibt Euch in Seinem kostbaren Blut... Wie sehr wünsche ich, dass Ihr zum Frieden und zur Versöhnung gelangt mit Euren Söhnen. Gott verlangt das von Euch und will, dass Ihr nach Kräften das Eurige dazu tut... Offenbar will Gott nicht, dass wir uns so sehr um Herrschaft und weltlichen Besitz kümmern, dass wir die Zerstörung an den Seelen und das Missfallen Gottes nicht mehr sehen, die doch die Folgen des Krieges sind. Ihr sollt vielmehr Euer ganzes Sinnen auf die Schönheit der Seele und das Blut Seines Sohnes richten.‹«
Hier stockte Sebastian kurz, fand aber rasch die Übersetzung für die folgenden Zeilen und fuhr fort: »›Mit diesem Blut wusch er das Antlitz unserer Seele und Ihr seid der Verwalter dieses Blutes. Er lädt Euch damit ein, nach der Speise der Seelen zu hungern. Wer Hunger hat nach der Ehre Gottes und dem Heil der Seelen, der opfert nicht nur den weltlichen Besitz, sondern sogar sein eigenes Leben, um seine Schafe dem Satan zu entreißen und sie zu schützen... Ihr werdet vielleicht entgegnen...‹«
»Gut, das reicht!«, unterbrach ihn der Novizenmeister und bedachte ihn mit einem anerkennenden Blick. »Ausgezeichnet! Sehr viel besser hätte ich es wohl auch nicht vermocht. Ich sehe, du hast deine Kenntnisse wahrlich nicht zu hoch gelobt.« Er nahm ihm die Briefesammlung ab, warf einen Blick auf die Textstelle, seufzte und sagte gedankenversunken: »Eine mutige Frau von hohen Geistesgaben, unsere heilige Katharina! Statt der vielen Übel, die unsere deutsche Frömmigkeit stören und uns das dunkle Gewitter der lutherischen Reformation eingebracht haben, bräuchten wir mehr derart leuchtende Glaubenszeugen wie sie.«
Mit einem energischen Kopfschütteln, als wollte er sich
selbst zur Ordnung rufen, schlug er im nächsten Moment das Buch zu und
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