Das Kloster der Ketzer
Eusebius schien etwas Ungewöhnliches aufgefallen zu sein. Denn er kniete sich mit gefurchter Stirn neben den Leichnam, betastete die Gliedmaßen des Toten, als wollte er deren Körperwärme erfühlen, untersuchte die Augen und
roch an der nassen Stelle seiner Kutte. Dann steckte er dem Toten den Zeigefinger in den Mund, strich darin herum und roch an dem Schleim, der an seinem Finger kleben blieb.
»Warum tut Ihr das?«, fragte Sebastian leise und voller Beklemmung, ahnte er doch schon, welcher Verdacht dem Kräuterbruder gekommen war. »Stimmt irgendetwas nicht?«
»Hier stimmt eine ganze Menge nicht«, murmelte der schieläugige Mönch mit finsterer Miene und so leise, als würde er zu sich selber sprechen. »Jedenfalls ist er nicht freiwillig aus dem Fenster gesprungen! Skapulier und Kuttenärmel rei ßen wohl kaum ein, wenn man auf eine Fensterbank steigt, in die Tiefe springt und auf glattem Gelände aufschlägt!«
Sebastian erschrak bei diesen Worten, die seinen eigenen vagen Verdacht zur Gewissheit werden ließen. »Wollt Ihr damit sagen, dass er... ermordet worden ist?«, stieß er hervor.
Der Kopf des dürren Mönchs fuhr ruckartig zu ihm herum. Er sah ihn mit einem verblüfften Ausdruck an, als würde er sich erst jetzt bewusst, was er da soeben Ungeheuerliches ausgesprochen hatte – und vor allem wem gegenüber er das getan hatte.
»Gar nichts will ich sagen! Mir ist auch nichts dergleichen über die Lippen gekommen! Und Ihr tut besser daran, in Eurer jugendlichen Voreiligkeit keine falschen Schlüsse zu ziehen und schon gar keine Gerüchte in die Welt zu setzen, für deren Wahrheitsgehalt Ihr keine handfesten Beweise anführen könnt!«, wies er ihn zurecht. »Ihr würdet Euch damit bestimmt keine Freunde bei uns im Konvent machen! Und nun will ich keinen Ton mehr davon hören. Los, packt an!«
Gemeinsam trugen sie den Toten in den Kreuzgang und bahrten ihn in der Nische auf, die in die zum Innenhof weisenden Arkaden eingelassen war und in der sich auch ein kleiner
Altar mit einem Kruzifix darüber und zwei Heiligenbilder rechts und links davon befanden.
Und während Sebastian dem Kräuterbruder stumm bei der schauderhaften Arbeit zur Hand ging, grübelte er darüber nach, warum Bruder Eusebius plötzlich davor zurückgeschreckt war, seinen Verdacht offen auszusprechen. Aber noch mehr beschäftigte ihn, warum Pachomius ermordet worden war. Denn dass der arme Kerl einem Mordanschlag zum Opfer gefallen war, daran hegte er jetzt nicht mehr den geringsten Zweifel. Auch war er sich sicher, dass dessen gewaltsamer Tod in Zusammenhang stand mit der Entdeckung, die Pachomius gemacht hatte.
Doch welcher Ungeheuerlichkeit war er bloß auf die Spur gekommen?
Es musste mit den Flugblättern zusammenhängen, von denen er so geheimnisvoll gesprochen und die er nur ganz kurz aus seiner Gewandtasche hervorgezogen hatte. Und wenn der Mörder sie ihm nicht abgenommen hatte, mussten sie sich noch immer in der Tasche des Toten befinden!
Als Bruder Eusebius ihn für einen kurzen Moment unbeobachtet ließ, um Kerzen zu holen, suchte Sebastian sofort unter dem Skapulier des Toten nach der Gewandtasche und den zusammengefalteten Bögen Papier, die vielleicht noch dort steckten.
Und in der Tat, da waren sie!
Rasch nahm Sebastian die Papiere an sich und ließ sie unter seiner Kutte verschwinden. Mit drängender Ungeduld wartete er nun darauf, dass Eusebius seiner nicht weiter bedurfte und er sich in seine Zelle zurückziehen konnte, um die beiden Flugschriften zu studieren und nach einem Hinweis darauf zu suchen, was Pachomius entdeckt und was ihn das Leben gekostet hatte.
Als er schließlich in seiner Zelle war, setzte er sich mit dem Rücken zur Tür an den schmalen Tisch und schlug das Buch mit der Ordensregel auf. Sollte jemand durch die Türöffnung in seine Zelle schauen, würde sein Körper verdecken, was wirklich vor ihm auf dem Tisch lag. Und trat jemand ein, würde er die beiden Blätter noch rasch genug im weiten Ärmel seiner Kutte verschwinden lassen können.
Mit wild schlagendem Herzen faltete er im Licht der Kerze die beiden Blätter auseinander und stellte überrascht fest, dass Pachomius nicht nur heimlich ein Exemplar der Flugschrift Wider die heidnische Barbarei im Namen unseren Herrn und Erlösers aufbewahrt hatte, sondern auch das Flugblatt mit der Überschrift Wider die Missbräuche und gottlosen Sitten der kirchlichen Fürsten auf Petri Stuhl – Zwölf Thesen zur Erneuerung der päpstlichen
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