Das Kloster der Ketzer
Autorität , das Bruder Sulpicius vor Wochen aus Passau mitgebracht und in seinem Streit mit dem Novizenmeister als Beweis angeführt hatte, warum die Drucklegung der gesammelten Schriften des Johannes Eck gerade zu diesem Zeitpunkt so überaus dringlich sei.
Auf den ersten Blick vermochte Sebastian nicht zu erkennen, was an den beiden Flugblättern außergewöhnlich oder gar ungeheuerlich sein sollte – von ihrem als ketzerisch verurteilten Inhalt einmal abgesehen. Doch als er die Blätter näher betrachtete, fiel ihm auf, dass Pachomius auf beiden Flugblättern an mehreren Stellen im Text den Buchstaben W unterstrichen hatte. Diesem Buchstaben fehlte auf beiden Blättern der letzte obere Bogen, was darauf hinwies, dass die Bleigie ßung der Letter nicht ganz einwandfrei verlaufen war.
»Gut, das bedeutet also, dass der Satz der beiden Flugblätter aus ein und demselben Setzkasten stammt. Aber was soll daran ungeheuerlich sein, Pachomius?«, murmelte Sebastian leise und mit gefurchter Stirn vor sich hin. »Jede Druckwerkstatt hat
einige nicht ganz perfekte Buchstaben. Die hier im Kloster auch. Und so ein W ist auch darunter...«
Er erstarrte, kaum dass ihm die letzten Worte über die Lippen gekommen waren. Wie Schuppen fiel es ihm von den Augen. Gleichzeitig fuhr ihm ein eiskalter Schauer den Rücken hinunter, als er jäh begriff, was Pachomius entdeckt hatte – nämlich dass die beiden Flugblätter aus ihrer Druckwerkstatt stammten! Offenbar heimlich nachts von Bruder Scriptoris gedruckt, denn von all den Mönchen und Konversen verstand nur er allein sich auf die schwarze Kunst. Und sofort erinnerte er sich wieder an die merkwürdige nächtliche Begegnung mit Bruder Scriptoris im Vorraum zur Druckerei, als er sich von seinem ersten nächtlichen Treffen mit Lauretia ins Kloster zurückgeschlichen hatte und beinahe mit ihm in der Diele der einstigen Kornmühle zusammengestoßen wäre. Jetzt verstand er auch, was es mit den stoffbespannten Rahmen für die Fenster wirklich auf sich hatte. Sie dienten ganz und gar nicht zum Schutz der angeblich so lichtempfindlichen Augen des Novizenmeisters an blendend hellen Sommertagen. Vielmehr sollten sie gewährleisteten, dass kein verräterischer Lichtschimmer aus den Fenstern der Werkstatt auf den Hof hinausfiel, wenn er nachts seiner geheimen Tätigkeit als Drucker von ketzerischen Flugschriften nachging!
Sebastian starrte benommen auf die beiden vor ihm liegenden Flugblätter. Der Novizenmeister hatte sie alle über seine wahre Person getäuscht, vom falschen Novizen bis hin zum Abt.
Bruder Scriptoris war ein Ketzer!
Nein, er war viel mehr als nur ein heimlicher Verfechter von Luthers Lehre!
Er war ein Mörder!
18
Die halbe Nacht wälzte Sebastian sich schlaflos auf seinem Lager von einer Seite auf die andere, während sich seine Gedanken unablässig mit den erschreckenden Ereignissen des vergangenen Tages beschäftigten. Ihm war, als würde ihn ein dunkler Mahlstrom erfassen und immer tiefer in seinen Schlund reißen.
Bis vor wenigen Stunden hatte er den Novizenmeister für einen gelehrten und gottgefälligen Mönch gehalten, der es mit seinem Gelübde um einiges ernster nahm als die meisten seiner Mitbrüder. Und nun lag auf ihm der schreckliche Verdacht, Bruder Pachomius ermordet zu haben! Konnte er sich derma ßen in ihm getäuscht haben?
Wer war Bruder Scriptoris wirklich? Warum hatte er vor Jahren sein Kloster im Wittenberger Land verlassen und war nach Passau geflohen, wenn er doch den aufrührerischen Lehren des Martin Luther anhing, wie seine geheimen anklagenden Flugschriften bewiesen? In der Disputation hatte er die scharfe Kritik des Wittenbergers an den kirchlichen Missständen mit großer Überzeugungskraft dargelegt, und vieles daran war auch ihm, Sebastian, einsichtig und nachvollziehbar erschienen.
Aber wie ließen sich diese flammenden Überzeugungen von einer wahrhaftigen Nachfolge Christi mit dieser skrupellosen Bluttat an Bruder Pachomius vereinbaren? Was hatte sich dort oben in der Kammer ereignet? Hatte Pachomius vielleicht die Dummheit begangen, ihn zur Rede zu stellen? Ihm womöglich damit gedroht, ihn zu entlarven und vor Gericht zu bringen? Hatte Bruder Scriptoris, aus Angst vor dem Feuertod auf dem
Scheiterhaufen, daraufhin die Nerven verloren und in seiner Panik diese entsetzliche Tat begangen?
Auch grübelte er darüber nach, was es bloß mit dem merkwürdigen Verhalten von Bruder Lombardus auf sich gehabt hatte. Dass der blinde
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