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Das Knistern in den Sternen: Roman (German Edition)

Das Knistern in den Sternen: Roman (German Edition)

Titel: Das Knistern in den Sternen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jón Kalman Stefánsson
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stiller Schrei, der die neunhundertundneun Meter der Esja übersteigt. Nein, Reykjavik ist nicht bedeutend, und dieser junge Mann ist weniger als nichts, nicht einmal ein Komma in der Geschichte, vollkommen unsichtbar. Und trotzdem kann er so viel Leid empfinden, dass ein ganzes Bataillon vor so viel Trauer bedingungslos kapitulieren würde, ein Zehntausend-Bruttoregistertonnen-Schiff würde unter ihrer Last sinken.
    Das ist doch bemerkenswert.
    Es wirft ganze Theorien um, allseits anerkannte Maßstäbe. Man sollte die Historiker informieren, sie sind die letzten Jahrtausende auf dem Holzweg gewesen, haben sich anschmieren lassen. Sie haben sich von Werbestrategen, aufgeblasenen Generälen, Kaisern und Politikern komplett in die Irre führen lassen. »Vergiss mich«, schreibt sie aus Prag.

Berge, die an freien Fall denken lassen
    Prag? Nein, Unsinn, die junge Frau hält sich noch immer im Westen Islands auf, in einem der Namen, den der junge Mann wie eine Beschwörung über der Landkarte murmelte, die jetzt zerrissen im Mülleimer liegt. Siehat den Brief nicht in Prag geschrieben, sondern im Wohnzimmer meiner Großeltern, noch in der gleichen Nacht, in der sie ihn verlassen hat. Sie hat den Brief per Express von Reykjavik abgeschickt; die Post hat die Beine in die Hand nehmen müssen, der Staub ist aufgewirbelt und Gischt übers Meer gesprüht. Dem Brief ist ein Schreiben an die Schwester beigelegt: »Schick den Brief schnell an die angegebene Adresse! Ich bin auf der Flucht, wie einst unsere ungeliebte Mutter. Ach, ich möchte, nein, ich will doch nur leben! Ich glaube, das ist das Wort: leben. Auch wenn ich es zur Zeit nicht gerade mit dem nötigen Nachdruck rufen kann.«
    Den Brief schreibt sie noch in Skaftahlicð, dann fährt sie nach Westen. Berge wachsen zwischen ihr und dem jungen Mann, weiß verschneite Hochheiden mit gefrorenen Seen türmen sich auf. Sie hält sich in den Westfjorden auf, die Berge sind so steil, dass sie an freien Fall denken lassen. Sie lebt in einem Seemannsheim, setzt darauf, dass hundert Tonnen toter Fisch ihre Gefühle betäuben. Vor ihr liegen Tage mit sechzehn Arbeitsstunden, was sämtliche Gedanken tötet, jeden Wunsch, überhaupt zu denken, zu empfinden, etwas zu fühlen. Ein Stapel Bücher liegt unberührt auf dem Nachttisch. Es geht doch, denkt sie nach einigen Tagen, ich beschwöre euch, ihr Fische, weiter die Netze zu füllen und die Lagerräume, ich setze auf euch. Doch ab der zweiten oder dritten Woche wird ihr unbehaglich in ihrer Haut.
    Ein unsichtbares Gummiband, denkt sie sofort. Ein zirka sechshundert Kilometer langes Gummiband, das sich über Berge und Hochheiden, Täler und Fjorde spannt und bei einem jungen Mann endet, der in einem Kellerloch in Skaftahlicð wohnt. Sie schreibt nach Prag: »Es sieht nicht gut aus mit der Grammatik des Tschechischen, Schwester.«
    Es ist ihr erster freier Tag, seit sie im Westen ist. Ihr Körper ist wie zerschlagen, die Lider sind furchtbar schwer, sie würde so gern einmal richtig ausschlafen: »Ich wollte bis über Mittag schlafen, aber nein, um drei in der Nacht bin ich aufgewacht und konnte nicht wieder einschlafen, lag nur da und starrte vor mich hin. Es war so dunkel, dass sich nicht einmal die Geister trauten, sich zu rühren.« Gegen Morgen ist es noch immer dunkel, als sie anfängt, den Brief zu schreiben, von den Bergen zu berichten, von dem gespannten Gummiband und der Grammatik, mit der es nicht gut aussieht. Es wird allmählich hell, das Mädchen beendet den Brief und schiebt ihn gerade in den Kasten an der Post, als die Spannkraft des Gummis überdehnt wird; es flitscht zusammen, und die junge Frau wird mit halsbrecherischer Geschwindigkeit durch die blaue Märzluft geschleudert.

Manchmal ist es nötig, ein Fenster einzuschlagen
    Es ist Nacht, als sie an die Tür einer Kellerwohnung in Skaftahlicð klopft. Erst leise und sogar höflich, dann kräftiger, denn der junge Mann schläft.
    Er hat einen festen Schlaf.
    An der Tür gibt sie auf und versucht es stattdessen am Fenster. Sie pocht mit der flachen Hand dagegen, dass es in der Umgebung widerhallt, und ruft seinen Namen. In den Nachbarhäusern gehen Lichter an, doch der Mann aus dem Ostland schläft ebenso tief wie die Berge über Neskaupstacfur. Er regt sich weder auf Klopfen noch Rufen und fährt erst auf, als ein Klirren die Nacht durchschneidet. Er wacht in der Überzeugung aus seinen Träumen auf, dass die Trauer bei ihm einbricht, um ihm endgültig den Garaus

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