Das Knistern in den Sternen: Roman (German Edition)
wieder.
Großmutter: »Du wirst nicht auf meinen Fußboden kotzen!«
Großvater: »Du weißt doch, dass sie sich im Westen aufhält, und du sagst, sie bedeutet dir alles. Was hast du also hier zu suchen? Noch dazu hackevoll und voller Selbstmitleid. Fahr ihr nach, Junge!«
Großmutter: »Nej, det gör hann ikke! Hast du keine Arbeit?«
Er sieht von einer zum andern, ganz durcheinander und mit verschwimmendem Blick.
»Was? Doch, doch. Ich bin Maurer, nein, in der Lehre, ich …«
Großvater: »Zum Donnerwetter, spielt das jetzt eine Rolle? Die Zementsäcke fliegen schon nicht weg. Mach dich auf den Weg oder vergiss sie!«
Großmutter: »Seine Arbejd darf man nicht im Stich lassen!«
Er: »Aber, ich, wo?«
Großvater: »Sie arbeitet in einem Kühlhaus. Davon gibt es nicht allzu viele. Such sie, Junge, such sie! Wenn man etwas bekommen will, muss man auch was dafür tun.«
Am nächsten Tag erwacht er in seinem Bett, mit gespaltenem Schädel und Erbrochenem auf dem Boden. Es ist Samstag. Er arbeitet bis Montagmittag, doch dann ist Feierabend. Der Meister schlägt die Hände über dem Kopf zusammen: »Den Rest der Woche frei nehmen? Ja, glaubst du denn, das Leben ist ein Ferienlager?!«
»Bekomme ich nun Urlaub?« »Nein.«
»Ich fahre trotzdem.«
»Dann brauchst du gar nicht mehr wiederzukommen!«, brüllt der Meister, der sich schrecklich aufregt und von einem Moment auf den anderen aus der Haut fahren kann. Sein Zorn legt sich jedoch ebenso schnell wieder, kaum dass der Junge aus seinen Augen verschwunden ist, und der Meister läuft ihm schimpfend hinterher.
Zwei Stunden später sitzt der Junge in seinem Kellerloch über eine Karte der Westfjorde gebeugt. Einen Busfahrschein hat er in der Tasche, für morgen früh um acht. Sein Zeigefinger streift über die größeren Ortschaften, und er murmelt ihre Namen, als wären es Beschwörungsformeln: Patreksfjörður, Tálknafjörður, Þingeyri.
Doch trotz der adretten, kleinen, nagelneuen Reisetasche mit der Fahrkarte darin und obwohl er fest entschlossen ist, fährt der junge Mann nicht, denn die Post bringt ihm einen Brief: Ein müder Postbote mit wunden Füßen stellt ihn zu, ein Brief aus Prag, aus der Stadt mit lächelnden Barkeepern und einem Geiger, der ewig in Moll gestimmt ist und Beulen am Kopf hat.
»Ich bin nun also hier angekommen«, schreibt meine Mutter, »meine Schwester bringt mir abends tschechische Grammatik bei.« Und sie schreibt weiter, dass ihr sehr, sehr viel daran liege, dass er ihr nicht böse sei, obwohl sie es verdient habe, dann aber: »Vergiss mich!« Darauf folgt etwas, das sie wohl als Erklärung verstanden wissen möchte: Sie wolle die Welt kennen lernen, das Leben und sich selbst und könne sich beim besten Willen nicht vorstellen, zu heiraten, sich von den Erwartungen der Gesellschaft vereinnahmen zu lassen, am heimischen Herd auf ihn zu warten, Kartoffeln und Fisch aufzusetzen und die Kinder zu trösten – sich selbst zu opfern. »Verzeih mir«, schreibt sie zum fünften Mal, und diesmal soll er verzeihen, »dass ich abgereist bin, ohne mich zu verabschieden, und dass ich mich bei Nacht und Nebel davongeschlichen habe; aber ich musste es tun, sonst hättest du mich davon abhalten können, nicht durch Worte, sondern einfach dadurch, dass du aufgewacht wärst und mich angesehen hättest.« »Vergiss mich«, schreibt sie, denn nun liege ein ganzes Meer zwischen ihnen und ein halber Erdteil. Er werde eine andere kennen lernen, »die besser ist als ich. Sei mir nicht böse.«
Damit endet der Brief.
Der junge Mann packt die Reisetasche aus. Zerreißt den Busfahrschein. Beginnt die Karte der Westfjorde sorgfältig zusammenzufalten, reißt sie dann aber wütend in Stücke. Es wird Abend.
Der Himmel dunkelt über einem Kaff am Ende der Welt. Es heißt Reykjavik. Eine winzige, verstreute Siedlung am Rande des Eismeers. Nicht viele kennen sie überhaupt, und vielleicht gibt es dazu auch keine Veranlassung. So ein verlorener Ort, noch dazu ganz jung. Kopenhagen ist älter, Berlin viel größer. Als Rom tausend Jahre alt war, bestand Reykjavik aus einem namenlosen Durcheinander von Mooren und kleinen Erhebungen, über die der Nordwind fegte. Dann kamen Menschen über das Meer, und viele hundert Jahre lang war Reykjavik eine armselige Ansammlung von Torfhütten, die übergroßen Wiesenhöckern glichen.
Es wird Nacht über Reykjavik.
Rabenschwarze Nacht, und auf ihrem Grund liegt der junge Mann. Er leidet. Sein Leiden ist ein
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