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Das Knistern in den Sternen: Roman (German Edition)

Das Knistern in den Sternen: Roman (German Edition)

Titel: Das Knistern in den Sternen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jón Kalman Stefánsson
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obersten Zeilen wiedererkannt. Er hat den Zettel zwischen den Fingern gehalten, ein ganz normales Stück Papier, und doch war es, als ob er sich ihren Körper hinabbuchstabierte, und es hat sich so echt angefühlt, dass er gezittert hat. Nachmittag, nur ein schmuddeliger Nachmittag, nur er allein mit diesem Fetzen Papier in den Pfoten, und doch hat er nichts anderes denken können, als ihr die Kleider vom Leib zu reißen, verdammt noch mal, er kann doch nichts dafür. Und eine ganze Woche lang hat er sich für diesen Wunsch geschämt, dafür, so an sie zu denken. Keine Anmut, kein Feingefühl, kein Respekt. Er hat sich nicht zu ihr getraut, nicht gewagt, ihr unter die Augen zu treten. Denn was, wenn alles ausgelöscht wäre bis auf dieses eine Verlangen?
    Eine ganze Woche.
    Jetzt aber ist er bei ihr, und sie erzählt von irgendwas, spricht leise, von irgendeinem Dichter oder Onkel. Er hört nicht zu, sieht nur, wie sich ihre Lippen bewegen, betrachtet ihr Gesicht, leuchtend vor Eifer, und er fühlt etwas, das entweder helles Entzücken oder tiefen Schmerz bedeutet: »Wenn es einen Himmel gibt/Dann ist er dieses Gesicht.« Er streckt seine rechte Hand vor.
    Zwanzig Minuten später ist es sein Keller, seine kleine Wohnung mit dem schmalen Bett, das knarrt, wenn man sich darauf setzt. Man bewegt sich, und ein komplettes Sinfonieorchester stimmt seine Instrumente. Ein junger Mann aus dem Osten des Landes und eine junge Frau, wahrscheinlich aus dem Westen, von der Mutter in der Sólvallagata zurückgelassen, bei Fremden am Fuß eines riesigen Gletschers groß geworden. Sie ist nackt, wunderbar nackt, sagenhaft nackt, es ist wundervoll, nein, es ist nicht wundervoll, doch, ist es wohl! Graue Augen sehen ihn an. Ob die Milch im Kühlschrank sauer ist?
    »Wohin gehst du?«
    »Nachsehen, ob die Milch sauer ist«, sagt er wie ein Trottel und steht mitten im Zimmer. Sie liegt unter seiner Decke. Endlich liegt sie unter seiner Decke, und sie ist nackt!
    »Geh nicht!«, sagt sie, »lass doch die Milch! Lass überhaupt die ganze Welt und komm her!«
    »Ich soll kommen?«, fragt er und bekommt kaum Luft. »Komm!«, sagt sie leise. »Komm her!«, wiederholt sie und blickt ihn mit diesen großen Augen an.
    »Ja«, sagt er.

Lasst die Historiker davon wissen
    Die Einsamkeit weckt ihn.
    Nicht wie ein schwerer Schlag, sondern wie ein leises Ziehen, das im Moment des Aufwachens zu einem Schmerz anwächst. Viele Tage sind vergangen, seit er an ihrer Seite eingeschlafen ist, müde, erschöpft, glücklich, in der schönsten Nacht des Lebens. Am Morgen danach war sie verschwunden. Nicht nur aus seinem Leben, sondern ebenso aus der Stadt. Sie ist davongefahren und hat die Laternenpfähle stehen lassen.
    Ist davongefahren und hat sämtliche Vorfahrtsschilder zurückgelassen, die Häuser in der Weststadt, alle Bürgersteige; sie ist weggefahren, und vergeblich preisen die Kinos ihre Filme in Cinemascope an, denn sie ist weg, auf und davon. Weg von der Hringbraut, weg von Skaftahlicð, dem ganzen Skaftahlicð 3-Hügel, besonders aber weg von einer Kellerwohnung, wo er in tiefer Trauer liegt. Davongelaufen nach Westen in die Fjorde, wohin genau, soll er nicht in Erfahrung bringen, die in Skaftahlicð dürfen ihren Aufenthaltsort nicht preisgeben. Ihre Abwesenheit macht jeden Sack Zement doppelt schwer. Er geht noch einmal zu ihrem Haus, um sich zu erkundigen, trifft aber nur den Dichter, der gerade dabei ist, zu packen.
    »Nichts zu tun hier, die Frau in Norwegen, weiß auch nicht, was ich eigentlich hier gesucht habe. Das Mädchen? Nein, keine Ahnung. Verschwunden, sagst du. Ja, mir brauchst du nichts zu erzählen, ich weiß, wie das ist. Mit den Gedichten geht es einem genauso. Sobald man glaubt, sie aus der Tiefe hervorgeholt zu haben und sie mit Händen greifen zu können, verschwinden sie, lösen sich auf und lassen einen allein zurück. Ich beneide dich um deine Arbeit, junger Mann, der Zement lässt den Sand nicht im Stich, und gemeinsam verbinden sie sich zu Beton; bald erhebt sich ein Haus. Du hast es gut.«
    Blödsinn, er hat es überhaupt nicht gut, der Junge aus dem Osten, und er hat nicht das geringste Interesse an den Schwierigkeiten des Dichters mit seinen Worten; er ist nichts weiter als ein Maurerlehrling, und jeder Tag ein neuer Foltermeister. Ihr Geruch ist aus dem Bettlaken verflogen, die Milch versauert im Kühlschrank, die Zementsäcke werden immer schwerer, bald wird die Erdkruste unter ihm einbrechen.
    »Zum Teufel damit,

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