Das Knistern in den Sternen: Roman (German Edition)
zu machen. »Das ist gut«, sagt er laut zu der Trauer, die sein Fenster einschlägt und die Gardinen zur Seite schiebt. Aber es ist nicht die Trauer, sondern eine junge Frau, sie ist es, und Gott existiert also doch oder etwas Ähnliches, denn, zum Donnerwetter, es ist wirklich sie, die da gebückt und mit einem dicken Stock in der Hand vor der eingeschlagenen Scheibe steht, sicher fuchsteufelswild oder auch das Gegenteil davon, ihre Hände bluten, und sie sagt: »Ich wette, du hast noch nie eine Frau geküsst, die gerade mit einem Knüppel eine Scheibe eingeschlagen hat.« »Nein«, antwortet er vom Bett aus, »aber wahrscheinlich habe ich immer davon geträumt.«
8
Urgroßvater und Urgroßmutter wohnen bis in den Herbst hinein in dem Dachzimmer in der Vesturgata. Jeden Morgen erwachen sie eng aneinander geschmiegt in dem schmalen Bett, und wenn das Alltagsleben in der Kleinstadt allmählich in Gang kommt, die Frauen gemeinsam Salzfisch weich klopfen und die Männer sich unter Kohlesäcken beugen, werfen Urgroßvater und Urgroßmutter die Schwerkraft der Erde ab und schießen hinauf in die ewige Helle der Sterne. Mit ihren siebzehn Jahren fordern sie die Welt heraus. August in einer Dachkammer, ewige Sternenhelle, dann wird es Herbst. Es wird Herbst, und das, was Alltag genannt wird, nimmt ihre Herausforderung an. Mit allen Arten unbedeutender Kleinigkeiten beladen, stampft er die Vesturgata herauf und tut, was er kann, um ihr Glück zu brechen.
Es herbstet, und als Urgroßvater wieder einmal an Urgroßmutters Seite in dem schmalen Bett sechs Meter über der Vesturgata aufwacht, verspricht er sich selbst, von nun an in allem Maß zu halten. Er betrachtet die schlafende Urgroßmutter, streicht über ihr langes Haar und lässt es durch seine Finger gleiten. Es ist rötlich braun und fein. Er berührt ihre Lippen mit den seinen, sie liegt auf der linken Seite, den Mund halb geöffnet, ihre Hände sind weiß und weich. Er sieht sie an, und das Glück schnürt ihm den Atem ab. Er setzt sich auf, will den Rest der Nacht wach bleiben und sie nur ansehen. – Dieses siebzehnjährige Mädchen, diese siebzehnjährige Frau.
Rechtes Maß halten, denkt Urgroßvater, ein Heim.
Sie ziehen aus der Dachkammer aus, zur Erleichterung, aber auch zum Bedauern des Ehepaars in der Etage darunter, denn die brennende Gier des jungen Paares hatte die Nachbarn nicht selten vom Einschlafen abgehalten und neues Feuer in ihrem abgekühlten Eheleben entfacht.
Sie verlassen die Dachkammer und kaufen eine Fünfzig-Quadratmeter-Wohnung in der Bergsta9astrati; das ist zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts nicht wenig. Urgroßvater macht in Immobilien, importiert daneben Waschzuber und Wäschemangeln. Er verdient ordentlich. »In meinen Taschen wächst das Geld«, sagt er triumphierend. Dreimal in der Woche kauft Urgroßmutter Fleisch in Thomsens Magazin und sonntags Torte in der Konditorei Skjaldbreidur. Einmal unternehmen sie eine Reise nach Kopenhagen – eine wunderbare Zeit. Sie schaffen sich ein solides Bett an, einen Küchentisch mit vier Stühlen, ein Sofa, eine Kommode, einen geräumigen Schrank und einen alten, großen Spiegel, den sie in Kopenhagen aufgetrieben haben. Gut neunzig Jahre ist es her, seit sich Urgroßmutter das erste Mal darin betrachtet hat, und jetzt hängt er hier bei mir, am Stadtrand von Reykjavik. Urgroßvater beginnt den Morgen jedesmal mit einem Blick in diesen Spiegel und ermahnt sich, umsichtig in die Welt hinauszugehen, bescheiden, aber doch entschieden. Maß halten, denkt er, Sicherheit. Und er tritt vorsichtig auf, behutsam und doch resolut. Es sind glückliche Tage. Sie lesen einander vor, teilen ihre Träume, Küsse, Speichel, den Atem.
Das erste Kind kommt, ein Mädchen, das mit den Jahren gefährlich blondes Haar bekommt sowie einen aufsässigen, unberechenbaren Charakter. Irgendwo steht geschrieben: Ein Kind bedeutet nie gekannte Freuden – doch ebenso unerbittliche Pflichten. Vermutlich ist es Letzteres, was Urgroßvater den Boden unter den Füßen wegzieht.
Dabei befindet er sich nach einem normalen Arbeitstag einfach nur auf dem Heimweg. Er geht die Bakarabrekka hinauf, wahnsinnig elegant und nicht gerade unzufrieden mit sich selbst, da ihm Frauen sämtlicher Altersklassen Blicke zuwerfen. Er lässt den Spazierstock kreisen, geht mit resolutem Schritt. Da dringt aus einem ihm völlig unbekannten Haus Kindergeschrei an sein Ohr. Es ist nichts Besonderes daran, ganz und gar nicht, trotzdem tritt
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