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Das Knistern in den Sternen: Roman (German Edition)

Das Knistern in den Sternen: Roman (German Edition)

Titel: Das Knistern in den Sternen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jón Kalman Stefánsson
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Vater den rechten Arm
    und beißt ihn in den linken. Es sind die Arme,die vom
    Muli-Viertel bis zu unserem Block eine schwer mit Holz
    und Mauersteinen beladene Schubkarre schieben.
    Gesegnet sei diese Schubkarre,
    gesegnet seien die Arme meines Vaters,
    gesegnet sei der Hang, der meinen Block über alle übrigen
    hinaushebt, der Hang, der meinen Gruß nicht erwidert, der
    meine Wurzeln nicht aufnimmt,
    gesegnet sei all das und
    gesegnet sei die, die wahrscheinlich einige Abenteuer versäumte, einen dunkelhaarigen Geiger, gut gelaunte Barkeeper, die engen Gassen einer Weltstadt und die mich unter großen Schmerzen zur Welt brachte, gesegnet sei sie, und gesegnet sei die Hebamme, die mich nass aus ihren Körperflüssigkeiten hob und mich ihr schreiend auf den Bauch legte, da küsste sie meine Augen und segnete mich.
    Segnete die Augen, die nun schon fast vierzig Jahre lang die Welt in Augenschein nehmen,
    segnete die Hände, die bezeugen, was meine Augen sahen, und segnete zweifach meine Beine, denn sie sollen mich vor dem Tod in Sicherheit bringen.

10
    Zu meiner großen Verwunderung beginnt meine Mutter zu verschwinden. Sie, die mich durch Jahrtausende den großen Hang hinab in den Kindergarten begleitet hat, der sich zu seinen Füßen zusammenringelt. Sie, die einmal in einer Kellerwohnung in Skaftahlicð ein Fenster eingeschlagen und mich, eine Woche alt, in den Block getragen hat, der sich vier Stockwerke hoch in den stets veränderlichen Himmel reckt und ein Geschoss tief in das unbewegte Dunkel der Erde. Sie, die Wasser aufgesetzt, aber die Kartoffeln vergessen hat, die Gesichtscreme auf meine Zahnbürste aufgetragen und dafür das Fieberthermometer mit Zahnpasta bestrichen hat, die mir die Hosen verkehrt herum angezogen hat, so dass ich im Kindergarten aufsehenerregenderweise durch den Reißverschluss pupste. Zu meinem fassungslosen Staunen beginnt diese Frau, deren Gedanken so weit schweifen können wie der Himmel und die doch in jedem Wort anwesend ist, zu verschwinden. Ich erwache früh am Morgen, wage aber nicht aufzustehen, denn da, wo der Fußboden sein sollte, ist gähnende Leere.
    Mein Vater behauptet, sie sei nicht für lange weg, sie müsse ins Krankenhaus, »aber keine Sorge, es ist nichts Ernstes, pah, wir essen jeden Tag Würstchen und Popcorn, und du darfst dazu Miranda trinken!«
    Das finde ich gut; doch als er eines Tages ein Blatt vom Kalender abreißt, der über dem Küchentisch hängt, regnet es seit einer Woche ohne Unterlass so heftig, dass das Tageslicht keine Luft bekommt und es drüben im Wohnzimmer dunkel ist. Er reißt einen weiteren Tag ab, und der volle Mond nimmt ab und verschwindet. Reißt einen dritten Tag ab, und der Himmel atmet einen neuen Mond aus. Papa und die Maurerkelle fahren jeden Morgen zur Arbeit, doch ich bin manchmal allein zu Hause und lausche dem lockenden Murmeln im Kalender. Ich blättere in ihm, betrachte Tage, die von Abwesenheit ausgefüllt sind, und suche anschließend stundenlang nach Streichhölzern. So lange, bis mir vor Müdigkeit schwummrig wird. Endlich finde ich sie, indem ich auf einen Stuhl klettere und so ein beträchtliches Stück wachse. Aber der Kalender lacht mir ins Gesicht, und jeder Mittwoch darin schreit: »Du traust dich ja doch nicht, uns anzuzünden! Dann wirst du nämlich die rechte Hand deines Vaters kennen lernen.« »Und die linke auch noch«, kreischen die Samstage hämisch. Ich zögere. Meine Pobacken versuchen den Fingern einzureden: »Wir bekommen doch den Hosenboden versohlt, nicht ihr.« Ich zögere, wandere durch die Wohnung, die Abwesenheit meiner Mutter springt mich überall an. Ich gehe zurück in die Küche, wo die Tage triumphierend durcheinander schnattern.
    Und ich, der ich noch nie gezündelt habe, will mir nun das Feuer dienstbar machen. Ich, der ich so lange nach ihm gesucht habe, finde es in der Faust der Streichhölzer. »Lass mich größer werden!«, bettelt das Feuer mit dünner Stimme, und ich gebe ihm alle Mittwoche, es bekommt Ostern, den ganzen Sommer, der weiß und blau und grün ist, und auch noch Weihnachten, das mich durch den Stapel der Tage anfleht. Das Feuer wird wild, das gefällt mir nicht sonderlich, es wächst viel zu schnell und ist nicht wiederzuerkennen, nichts erinnert mehr an das kleine Flämmchen, das aus der Faust der Zündhölzer entsprungen ist. Ich laufe aus der Küche, schließe die Tür, setze mich aufs Sofa und warte. Als ich mich wieder in die Küche traue, ist das Feuer verschwunden,

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