Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Knistern in den Sternen: Roman (German Edition)

Das Knistern in den Sternen: Roman (German Edition)

Titel: Das Knistern in den Sternen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jón Kalman Stefánsson
Vom Netzwerk:
Westfjorde.« Dabei schaue ich nicht auf die Landkarte, sondern auf ihre schmale Hand und denke dabei an eine andere Hand, denke an das Foto einer Frau. Immerhin denke ich nicht immer und ewig daran. Beim Sport, zum Beispiel, vergesse ich es öfter. Unser Sportlehrer heißt Siggi Dags und ist Torhüter bei Valur – man wird schon größer, wenn man ihn nur ansieht. Und ich vergesse es auch, wenn wir auf dem geteerten Hof mit den Handballtoren Fußball spielen. Dann ist es, als wüsste man gerade gar nicht, ob sie tot oder lebendig ist, ob es einem gut oder schlecht geht. Es ist merkwürdig, und hinterher fühle ich ein seltsames Ziehen in mir, in der Brust und im Kopf. Deswegen bin ich in den Schulstunden danach ganz außer mir, höre nichts und achte nicht auf Sigriðurs Fragen, die sagt, ich sei »ungezogen«, und ich werde mit einem Tadel des Rektors nach Hause geschickt.
    Papa macht ein so schwerwiegendes Gesicht, dass ich unwillkürlich an Zementsäcke denken muss. Doch als die Stiefmutter einwirft, nur Streber würden sich immer tadellos benehmen, kommt Vater ganz durcheinander und erinnert nicht mehr an Zementsäcke. Sie hebt die linke Hand und streicht sich damit durchs Haar. Es ist schwarz wie eine Rabenschwinge.

Der erste Herbst
    Dunkelheit sickert zwischen den Sternen hervor, und ehe man sich’s versieht, sind die Tage kurz wie Husten. Drei Namen stehen auf unserem Briefkasten, der vierte steht tief über der Erde auf einem Kreuz. Da gibt es keinen Briefkasten und keine Klingel. Stiefmutters Name wirkt gravierender als der von uns beiden zusammen, wahrscheinlich weil sie aus einem Fjord jenseits der nördlichsten Heide kommt, der Winter dort länger und strenger ist als in meinem Block und der Sommer kurz und unbedeutend. Ich stelle mir vor, Stiefmutter ist dort im Norden eines Abends schlafen gegangen und am nächsten Morgen neben Vater aufgewacht. Da hielt ich mich gerade im Wohnzimmer auf, die britische Armee kämpfte gegen die zusammengeschmolzenen Reste der Deutschen, die das Schweigen der Frau zu Partisanen werden ließ. Abends an den Wachfeuern reden sie über sie. Ich weiß nicht, wie es da oben im Norden aussieht, außer dass dort sicher auch das Meer liegt mit überflüssig vielen Seehunden. Stiefmutter will einmal in der Woche Seehund essen. Seehund schmeckt noch scheußlicher als Hafergrütze, der Hals zieht sich schon zusammen, wenn nur das Wort Seehundfleisch auf den Tisch kommt. Aber der Herbst kommt nicht nur mit der Schule unter dem einen Arm angeschlappt und mit einem sternengewölbten Himmel wie eine aufgegangene, schwarze Blume in der anderen Hand, nein, der Herbst schiebt auch einen riesigen Speditionslaster auf unseren Parkplatz, aus dem ein Mann in Jeans und kariertem Hemd klettert. Der Truck ist um etliches größer als Björgvins Laster, und das Hemd des Fahrers steht weit offen, kohlschwarzes Haar quillt heraus wie zerklüftete Lava. Die Ärmel hat er bis weit über die Ellbogen aufgekrempelt, obwohl es ein kühler Herbsttag ist. Tryggvi schaudert es in seinem Anorak. Gunnhildur taucht auf, sie trägt einen Schal und führt den Himmel an der Leine spazieren wie ein folgsames Hündchen. Der Fahrer stopft sich Kautabak in den Mund und grinst aus einer roten Mundhöhle. Stiefmutter kommt herunter, sie bleibt im Hauseingang stehen, nachdem sie die Innentür weit aufgemacht und mit dem Haken festgestellt hat. Der Fahrer öffnet hinten die riesengroßen Ladetüren, streckt zwei behaarte Arme hinein, die ein wenig an schlanke, aber trainierte Hunde erinnern, und geht dann mit einem schwarzen Sack auf Stiefmutter zu. Sie sagt: »Halt mal die Tür auf! Nicht du«, sagt sie rasch, als der Fahrer die Haustür packt. Er lässt sie los, als hätte sie ihn gebissen, und ich stelle den Fuß vor. Der Fahrer geht zum Wagen zurück, zwei schlanke, durchtrainierte Hunde springen hinein, dann rückt er sich eine große, hölzerne Tonne auf der Schulter zurecht, setzt sie keuchend vor mir ab, zwinkert mir zu und flüstert: »Die ist nicht aus leichtem Holz geschnitzt.« Dabei nickt er in Stiefmutters Richtung, die mit leeren Händen wieder die Treppen herabkommt.
    Der Fahrer: »Soll ich sie dir nicht rauftragen. Die zieht ganz schön runter!«
    Ich betrachte die Tonne, die mir fast bis zum Kinn reicht. Stiefmutter: »Du hast geliefert, und deine Arbeit ist erledigt.« Damit bückt sie sich und hebt die Tonne, als wäre sie nichts, marschiert mit ihr die Treppen hinauf, verschwindet in der Wohnung

Weitere Kostenlose Bücher