Das Knistern in den Sternen: Roman (German Edition)
erinnerst du dich noch, so lange ist es ja noch nicht her.«
Urgroßvater starrt sie an, sein Zorn ist verflogen. Wie ein Löwe war er aufgesprungen, jetzt sinkt er nieder wie ein Schaf. Er schluckt.
»Sie hat gesagt, ich wäre alt und verbraucht, dabei sind wir kaum zehn Jahre auseinander. Findest du, dass ich alt und verbraucht bin? Wie alt ist sie? Zwanzig? Ich soll dir übrigens ausrichten, dass sie auf dich wartet. Und ich soll dir von allem erzählen, von ihren Brüsten, ihren weichen Lippen, den heißen Umarmungen. Ja, hiermit tue ich es, und ich soll dir noch sagen: Sie erwartet dich. Es ist alles für dich, hat sie gesagt. Aber ich habe sie gefragt: Was wird dann? Leidenschaft in jeder Umarmung, Küsse, als wenn jeder der letzte wäre? Sie hat geantwortet, euer Leben wäre ein einziger glühender Augenblick. Das sagt sich leicht, aber so lebt man nicht. Wirst du gehen oder bleiben? Ich werfe dich nicht raus, du kannst bei mir bleiben, ich will dich. Ich muss verrückt sein, das zu sagen, wenn ich nicht wüsste, dass es umgekehrt ist: Du wirst wieder zusammenbrechen und wochenlang verschwinden oder einen ganzen Monat. Du hast es so schwer mit dir selbst, dir fehlt das
Durchhaltevermögen. In einem kurzen Krieg wärst du ein Held, in einem langen ein Deserteur. Aber diese Frau – nein, sag den Namen nicht! Auf keinen Fall – sie ist wahrscheinlich wie du: Ihre Stärke ist ihre größte Schwäche. Sie will eine Woche auf dich warten, genau eine Woche, und kommst du dann nicht, wird sie sagen, sie werde ins Wasser gehen. Eine lausige Woche – nicht gerade viel Ausdauer. Aber du kennst das Meer, es ist dieses Große, Bewegte, vor dem du solche Angst hast. Würde mich wundern, wenn sie ihr Wort halten würde. Geh, wenn du willst! Sofort oder in einer Woche. Geh, und lass sie noch etwas weiterleben, aber wenn du gehst, dann verlierst du mich und die Kinder. Für immer, denn ich lasse dich nicht zurückkommen, in meinen Augen wirst du tot sein. Bleibst du, geht sie vielleicht ins Wasser. Eine schwierige Wahl?«
Die Drohung, dann vergeht der Herbst
Urgroßvater geht nicht. Es ist der Herbst 1914, und draußen, jenseits der endlosen See, explodiert die Welt. Erster Weltkrieg. Granaten und Gewehrschüsse erfüllen die Luft, abgesoffene Schützengräben in Flandern, kein Grashalm, nur Modder und Morast, Tote liegen wie frisch gefällte junge Bäume übereinander, und ein Soldat schreibt nach Hause: »Mein größtes Glück wäre ein heißer Tee und trockene Socken. Das ist wichtiger als Gott.« In Reykjavik aber, diesem großen Dorf weit draußen im Atlantik, geht das Meiste seinen gewohnten Gang. Ein Kleid zerreißt in einem schummrigen Hinterhof, und zwei Frauen sehen sich in die Augen. Eine Woche später, es ist früh am Morgen, steht Urgroßmutter auf und heizt den Ofen an, kocht Kaffee und findet auf dem Fußboden unter dem offenen Fenster einen Brief. Ihr Name auf den Umschlag gekritzelt, kein Absender. Sie öffnet ihn, zieht ein schief zusammengefaltetes Blatt Papier heraus. Darauf wenige Worte, in Hast oder Zorn hingeworfen: »Wenn du das liest, bin ich tot. Hast du geglaubt, ich würde nur leere Worte machen? Allerdings bin ich nicht ins Wasser gegangen, da hätte man mich womöglich nie gefunden. Stattdessen habe ich mich aufgehängt, und ich werde mein Versprechen nicht brechen. Kommt nicht in Frage. Ich werde dich und deine Kinder heimsuchen. Besonders die Kinder. In so mancher Nacht werde ich ihnen erscheinen, mit blauer Zunge und Augen, die aus den Höhlen treten wollen. Wir sehen uns!« Urgroßmutter wirft den Brief ins Feuer, macht für sich und Urgroßvater Kaffee. Dann vergeht der Herbst.
12
Es wird Mittag an diesem kalten Oktobertag des Jahres 2002, und als ich den Hauseingang von Nummer 54 betrete, fällt mir sofort auf, dass die Tafel mit den Namen der Mieter noch immer genau an derselben Stelle hängt wie vor dreißig Jahren. Ich habe vorher lange darüber nachgedacht. Wie es sein wird, zurückzukehren. Heim nach Safamyri, wo ich aufgewachsen bin, wo meine Erinnerungen wachsen wie ein verwunschener Wald, schwarz, grün und braun. Ich atme den Geruch ein, schaue durch das Glas der inneren Tür ins Treppenhaus, werfe einen Blick zur Seite und lese die Namen auf der Anschlagtafel, säuberlich ausgedruckt, wahrscheinlich Times Roman, 14 Punkt. Alles ist akkurat, der Zeilenabstand perfekt, und doch stimmt etwas nicht: Keiner der Namen passt zu diesem Block. Diese Menschen gehören hier nicht
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