Das Knistern in den Sternen: Roman (German Edition)
hinein, es wird immer dunkler um uns. Ich erzähle Stiefmutter von Anna aus der Kellerwohnung. Sie hat mir zweimal Kaffee gegeben. Es ist schön bei ihr, sie ist von etwas Geheimnisvollem umgeben. Die anderen Frauen im Treppenhaus behandeln sie wie Luft. Anna hat keinen Mann, sie wohnt mit ihrem dreijährigen Kind allein. Ich erzähle Stiefmutter von dem Riesen, der gegenüber von dem alten Mann im dritten Stock wohnt. Manchmal schnappt er mich an den Ohrläppchen und zieht mich daran so hoch, dass ich gerade noch mit den Zehenspitzen den Boden berühre. Es tut weh, aber der Riese lacht und meint, das härte mich nur ab. Seine Tochter heißt Agnes und ist genauso alt wie ich. Einmal fasste sie die Fernsehantenne an, und das, was man Elektrizität nennt, versetzte ihr einen Schlag. Ich warne Stiefmutter vor Antennen. Ich erzähle ihr vom Block, von unserem gesamten Block, der von allen der Bedeutendste ist. Die anderen drei wurden nur ihm zu Ehren errichtet. Die Samstagabende kommen und gehen, die Welt rutscht immer tiefer in die dunklen Tage hinein, die Sterne funkeln am Himmel, der Mond wird größer, und Stiefmutter und ich sitzen in der Küche. Sie knabbert an Seehundflossen, ich versuche ihr die Welt zu erklären, Papa hängt im Wohnzimmer vor dem Fernseher und lacht sich über Mini-Max kaputt. Papa liebt das Fernsehen, er war der Erste im gesamten Block, der sich einen Apparat angeschafft hat. Das war, bevor Stiefmutter auftauchte. Traumhafte Zeiten. Jeden Abend füllte sich unser Wohnzimmer mit Menschen, selbst der Griesgram war nicht im mindesten schlecht gelaunt, nur einmal, als der Riese vor ihm stand und er nichts sehen konnte. Papa saß in seinem Sessel, und alle Welt bildete einen Halbkreis hinter ihm. Stiefmutter mag das Fernsehen nicht. Niemand in ihrem Fjord besitzt so einen Kasten, nicht einmal ihr Nachbar, dem sie ansonsten den Besitz von allem möglichen überflüssigen Krempel zuzutrauen scheint.
Berge und Baldursgata
Eines schönen Herbsttages, als die Sonne ganz allein an einem blauen Himmel steht und die Herbstfarben so in einen eindringen, dass dabei etwas Wichtiges mit einem vorgeht, steigen wir, das heißt Vater, ich und Stiefmutter, in den Trabant und fahren los. Die Miklabraut hinab, an den potthässlichen Gebäuden von Skeifan vorbei und anscheinend Richtung BreioTiolt, da schließe ich die Augen. Als ich sie wieder öffne, sind wir bereits aus Reykjavik heraus und fahren noch weiter. Ich bin schon total erstaunt, wie groß dieses Island ist, als Stiefmutter sagt: »Bieg mal hier ab!«, und der Trabbi gehorcht. Wir fahren weiter, bis Stiefmutter sagt: »Hier halten wir an«, und das tun wir. Klettern aus dem Auto und setzen uns auf die Wiese. Es ist so still, dass einem schwindlig davon wird. Stiefmutter hat ein Picknick vorbereitet, Brot mit Leberwurst. Sie trinken Kaffee, mir reicht sie eine volle Flasche Milch, und ich muss Papa etwas für seinen Kaffee abgeben. Stiefmutter will keine Milch in den Kaffee, sie trinkt ihn so heiß, dass der Teufel unter meinem Po Hallo sagt. Ich suche mir einen anderen Platz. Um uns herum stehen Berge, mindestens sieben. Die Stiefmutter sitzt auf einem Grashöcker und atmet. Sie wollte raus in die Natur, um wieder einmal Luft zu bekommen. Unterwegs habe ich leise gehofft, sie werde abkratzen, und Papa und ich müssten noch einmal in die Kirche und das Wort Leichenschmaus besuchen. Aber jetzt hockt sie da und atmet. Vater legt sich ins Gras und nickt ein. Er ist bestimmt froh, dass Stiefmutter am Leben geblieben ist, sonst hätte ihn jemand morgens vom Dach des Blocks gestürzt. Es ist das einzige Mal, dass Stiefmutter raus in die freie Natur muss, um zu atmen. Als wir uns das nächste Mal in den Trabant klemmen, fahren wir durch die Straßen von Reykjavik. Sie grüßen mich und sagen »Danke für letztes Mal«. Der Trabbi biegt in die Baldursgata ein und hält vor Urgroßmutters Haus. Sie liegt im Bett und denkt an alles, was vergangen ist. Die Erinnerungen streifen wie Rabenschwingen die Scheiben, sie wachsen wie Butterblumen auf dem Dach. Stiefmutter kocht Kaffee, Papa unterhält sich mit Uroma, sie sagen »Ja, ja«. Ich sitze auf einem uralten Stuhl. Uroma richtet sich auf, klettert mühsam aus dem Bett und kramt dann in einem dunklen Schrank. Mit einem Hut in den Händen kommt sie zu mir, ihr Kopf ist wie eine graue Kartoffel. »Dieser Hut gehörte deinem Urgroßvater«, sagt sie und setzt ihn mir auf. Der Hut rutscht mir über die Augen, und ich
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