Das Knistern in den Sternen: Roman (German Edition)
können und den einen oder anderen Theaterund Konzertbesuch. Er legt Wert darauf, nicht zu Reichtum zu kommen. Urgroßmutter arbeitet noch immer halbtags. Die ruhigen Jahre.
Tausend Tage gehen durch sie hindurch, unsichtbare Tage, die den Duft von Erinnerungen zurücklassen. Sie kaufen die Kellerwohnung in der Óðinsgata, haben nie so lange an einem Ort gewohnt, und Urgroßvater spricht manchmal von »Zuhause«. Dann ein kaltes Frösteln, anschließend drei Tage lang 39 Grad Fieber mit trockenem Husten und leichtem Kopfschmerz, dann ist es überstanden. Schlimmere Auswirkungen hat die Spanische Grippe nicht auf Urgroßvater. Wir schreiben November 1918.
Blau ist die Farbe des Todes
Als er von seinem Krankenlager aufsteht, legen sich Urgroßmutter und die drei Kinder hin. Alle mit hartnäckigem trockenem Reizhusten, der die Brust schmerzen lässt, und mit blutgefärbtem Auswurf. Bei ihnen dauert es beträchtlich länger als drei Tage. Jetzt werde ich auf die Probe gestellt, denkt Urgroßvater. Er füttert sie, zweien flößt er Brei ein, den er durch ein feuchtes Tuch presst. Er singt den Kindern etwas vor und wärmt sie und Urgroßmutter mit seinem Körper. Er macht sich auf die Suche nach einem Arzt, doch die Ärzte liegen selbst krank darnieder oder sind so überlaufen, dass er einen auf offener Straße anhalten muss. Der breitet nur hilflos die Arme aus, und Urgroßvater steht sieben Stunden in der Schlange vor der Apotheke, vom Abend bis tief in die Nacht. Die Sterne glitzern hell in der Frostnacht. Er rasiert sich nicht, läuft mit einem Stoppelbart und vor Übermüdung roten Augen herum, das Gesicht aufgedunsen, Arme und Beine schwer von Schlaflosigkeit. Er zieht los, um Essen zu besorgen. Seine Streifzüge dauern immer länger und werden zunehmend ungewisser, denn ein Geschäft nach dem andern schließt aufgrund der Epidemie. Manchmal ist außer ihm niemand auf der Straße, Urgroßvater ist allein auf der Welt, mit grauem Haar und blutunterlaufenen Augen, vollkommen allein, nur irgendwo dringt Stöhnen aus einem geöffneten Fenster. Menschen sterben, Zeitungen stellen ihr Erscheinen ein. Nach einer Woche geht es den beiden älteren Kindern etwas besser, das jüngste aber, das inzwischen vierjährige Mädchen, ist sehr geschwächt von den Hustenanfällen, sein Körper vollkommen ausgepumpt und schlapp von sieben Tagen mit hohem Fieber. Urgroßvater hält sie im Arm, diesen kleinen Leib, der in schwachen, tiefsitzenden Hustenkrämpfen zuckt. Er legt sie zurück ins Bett, streicht ihr über das dunkle Haar, sagt ihren Namen, küsst ihre Lider und murmelt immer wieder: »Leb weiter!«
Die Nacht vergeht, und Urgroßvater lauscht auf den keuchenden Atem seiner kleinen Tochter. Der Tag bricht an, vergeht, und es dunkelt wieder. In der nächsten Nacht scheint das Fieber noch zu steigen. Urgroßvater wacht, legt ihr ein feuchtes Tuch auf die Stirn, küsst sie. Es wird eine lange Nacht. Erst betet er zu Gott, dann, als die Nacht verstreicht, ohne dass eine Besserung erkennbar wird, denkt er in seiner Ohnmacht: Soll doch der Teufel meine Seele holen, wenn er den Tod von meiner Familie fern hält! Er erschrickt erst bei diesem Gedanken, knurrt dann aber: »Sie ist sowieso verloren und verdammt.« Das Mädchen erholt sich, Urgroßmutter ebenfalls, sie kommt wieder auf die Beine. Urgroßvater rasiert sich und überlegt dabei, ob sich Gott und Teufel wohl um seine erbärmliche Seele streiten werden. Kaum, denkt er, halb hoffnungsvoll, halb enttäuscht. Er setzt sich auf die Bettkante, fängt an, sich den Pullover auszuziehen, und schafft es gerade noch, aus einem Ärmel zu schlüpfen, da fällt er um und schläft.
Vier Stunden später weckt ihn die ältere Tochter, die mit den blonden Haaren. Sie schüttelt ihn, redet wirr und weinend auf ihn ein. Er braucht lange, bis er zu sich kommt, nur langsam taucht er aus der Tiefe schwarzweißer Träume auf, stiert benommen vor sich hin. Das Mädchen weiß sich zu helfen, es spritzt seinem Vater etwas eiskaltes Wasser ins Gesicht. Die Urgroßmutter hat sich wieder hingelegt, ist furchtbar krank. Sie blutet aus der Nase, aus dem Zahnfleisch. Urgroßvater und seine ältere Tochter versuchen sie anzusprechen, aber sie dringen nicht durch ihre Bewusstlosigkeit.
Ein, zwei, drei Tage vergehen so.
Urgroßvater hat wieder einen Dreitagebart. Als er sich in seinem Aufzug über sie beugt, schlägt Urgroßmutter plötzlich die Augen auf und fängt an zu lachen. Man hört zweimal ein
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