Das Knochenhaus
ihnen ihre Unkenntnis ein gewisses Maß an Schutz vor der harten Wirklichkeit. Zusammengenommen liefen die von Archie gewählten Objekte auf eine sehr beträchtliche Summe hinaus, die ihm erlauben würde, in den Antiquitätenhandel einzusteigen.
Aber das war noch lange nicht alles.
In Wahrheit war der weitaus größere Teil von Archies inzwischen ansehnlichem Vermögen bereits sicher versteckt in sechs großen Teekisten, die – gleichfalls sicher – in den Gewölben der Lloyd’s Bank hinterlegt worden waren; und eine weitere hatte man eine Woche vorher mit seinen Koffern nach King’s Cross Station geliefert. Nach seiner raschen Vertreibung aus Lord Gowers Londoner Stadthaus stattete Archie seiner Mutter einen Besuch ab, sagte ihr Lebewohl und hinterließ ihr ein Sparbuch der Lloyd’s Bank, in dem auf ihren Namen ein Vermögen von fünfhundert Pfund eingetragen war. Er gab ihr zum Abschied noch einen Kuss, bevor er den Abendzug nahm, mit dem er zur Küste fuhr und von dort per Schiff auf den Kontinent reiste. Den Besuchen in Paris, Köln, Wien und Rom folgten längere Aufenthalte in Prag, Konstantinopel, Jerusalem und Kairo. Bei jedem Halt auf seiner Reise erwarb er Kunstobjekte und exotische Werke, welche die Grundlage einer Sammlung von beinahe legendärem Ausmaß bilden würden, um die abgestumpften Geschmacksnerven der bedeutendsten Londoner Sammler zu quälen.
Archies einziger Kontakt mit England während seines langen Aufenthalts im Ausland bestand aus einem Brief von Anwalt Beachcroft, der ihn davon in Kenntnis setzte, dass der Grundbesitz des Earls an einen Zuckermagnaten verkauft worden war. George und Branca Gower hatten ihr Vermögen genommen und waren nach Lissabon zurückgekehrt, wo sie voraussichtlich ihre Tage in Ruhe und Behaglichkeit auf Kosten ihres verstorbenen Verwandten verbringen würden.
Als sich der Todestag des Earl of Sutherland zum zweiten Mal jährte, kam ein äußerst schneidiger Magnat in London an, der auf den Namen Archelaeus Burleigh, Earl of Sutherland, hörte. Der unbekannte, distinguierte junge Lord nahm eine Wohnung in einem ausgedehnten
Kensington-Garden-Herrenhaus. In den folgenden Wochen redeten die reicheren Bürger der Metropole nur noch über die seltenen und erlesenen Antiquitäten, die dieser kenntnisreiche und wortgewandte Gentleman aus seinem scheinbar unerschöpflichen Vorratslager hervorholen konnte. Es kreisten Geschichten über die umfangreichen Beziehungen des Earls zur Aristokratie des alten Europa und zu den Königspalästen im Nahen Osten, welche die Hauptquellen der wundersamen Gegenstände seien, mit denen er handelte. Und diese Objekte waren nicht gerade billig.
Sicher – die hübschen Ringe, Armbänder und Halsketten, die mit Edelsteinen besetzten Anhänger, Statuetten, Dolche und Diademe, die gemeißelten Reliefs von attischen Friesen und Giebeln, die kunstvoll verzierten rot-schwarzen Amphoren, Schalen, Lampen, Trinkbecher, Urnen und all die restlichen Dinge waren mit atemberaubenden Preisschildern versehen. Doch wo sonst konnte man so herrliche Antiquitäten bekommen?
»In dieser Welt ist Schönheit allzu oft nur etwas Vergängliches«, pflegte Lord Burleigh zu bemerken. »Ich lebe nur für eine Sache – und das ist das Streben nach Schönheit, die die Zeitalter überdauert.«
Diese Geisteshaltung und noch vieles mehr an diesem jungen Aristokraten beeindruckte seine Kundschaft mächtig, zu der nun eine wachsende Anzahl junger Frauen im heiratsfähigen Alter zählte. Wie man sich über den heiratswürdigen Junggesellen Sutherland erzählte, wuchs sein Reichtum – und beim Weitererzählen wuchs er immer mehr –, bis er nicht mehr eine Abendaufführung im Covent Garden oder eine der traditionellen Promenadenkonzerte aufsuchen konnte, ohne eine Schar sorgfältig hergerichteter und wunderschön gekleideter junger Dinger an sich zu ziehen. Und dies blieb alles andere als unbemerkt.
So hörte man einen leicht neidischen Betrachter einmal sagen: »Ich glaube, der Earl of Sutherland muss seine Gartenarbeit lieben.«
»Wieso, Mortimer?«
»Wieso? Um von solch einer Überfülle an hinreißenden Blumen umgeben zu werden, muss er wie ein wahrer Sklave in diesen Beeten schuften.«
»Ganz recht.«
Der junge Earl selbst schien sich an der weiblichen Aufmerksamkeit zu erfreuen, blieb jedoch stets ein wenig auf Distanz und hielt angesichts seiner eigenen scheinbaren Verfügbarkeit eine Miene leichter Erheiterung aufrecht. Und während er in der
Weitere Kostenlose Bücher