Das Knochenhaus
folgte, erklärte sie: »Wir sind immer noch ein paar Meilen von der Stadt entfernt. Aber mit ein bisschen Glück wird eine Kutsche vorbeikommen, und wir erhalten eine Mitfahrgelegenheit.«
Doch die erwartete Kutsche erschien nicht. Sie erreichten Edinburgh, indem sie durch die schmutzigen Außenbezirke mit ihren niedrigen, schäbigen Häusern marschierten, deren getünchte Wände durch den Rauch und Ruß von Auld Reekie – die »Alte Verräucherte« war der Spitzname von Schottlands Hauptstadt – dunkel geworden waren. Dieser Teil von Edinburgh bereitete Giles in keiner Weise auf den Eindruck der sich ausbreitenden Innenstadt vor. Als sie schließlich das Stadtzentrum erreichten, war er von diesem Eindruck überwältigt. Giles nahm die gewaltigen Gebäude aus rotem Stein entlang der Straßen ebenso in sich auf wie die zahlreichen Bewohner, die ihren Geschäften nachgingen. Schließlich erblickten sie eine sich ausdehnende, weit in die Höhe emporragende Burg, die direkt im Herzen der Stadt auf einem blanken Felsenkegel thronte: Giles blieb stehen und konnte nur mit offenem Mund und in sprachlosem Erstaunen das Bauwerk anstarren.
»Was denkt Ihr?«, fragte Wilhelmina, die ebenfalls innehielt.
»Es ist ein schöner und stattlicher Ort«, lobte Giles und sah sich um. »Sogar größer als London – mit mehr Gebäuden aus Stein. Und auch die Kutschen sind größer.«
»Und das ist bloß der Anfang.« In diesem Augenblick begann eine Uhr hoch oben im Turm einer Kirche, die am anderen Ende der Straße stand, die Stunde zu schlagen: Es war drei Uhr. »Wir sollten uns besser beeilen. Schließlich wollen wir sie nicht zu Hause beim Tee stören.«
Erneut zeigte sich auf dem breiten Gesicht des jungen Mannes ein ratloser Ausdruck. »Gehen sie denn nicht ins Teehaus?«
Mina ahnte den Grund für seine Verwirrung. »Oh, natürlich. Hier in der Nähe gibt es immer noch Teeläden, und zwar massenhaft. Aber in zunehmendem Maße trinken die Leute ihren Tee zu Hause. Auch nehmen sie eine leichte Nachmittagsmahlzeit dabei zu sich.«
Giles akzeptierte diese Erklärung mit seinem üblichen Nicken. Daraufhin begann Mina, die Straße entlangzugehen, und er folgte ihr.
Einen Augenblick später wandte sie sich wieder ihm zu. »Wo wir schon von Mahlzeiten sprechen – habt Ihr Hunger? Wir haben gerade noch Zeit genug, um ein Sandwich aufzugabeln ...« Sie bemerkte den verwirrten Blick ihres Gefährten und erriet sogleich den Grund dafür. »Tut mir leid; ich habe ganz vergessen, dass Ihr darüber noch nichts wissen könnt. Aber keine Sorge! Ihr werdet es mögen.«
Drei weiche Brötchen mit Schinken, Käse und Senf, zwei Becher mit milchigem Tee und eine Kutschenfahrt später kamen sie vor den Stufen eines großen Steinhauses in der Charlotte Street an. Den Tee hatten sie an einem Kutschenstand getrunken, und die Sandwiches waren auf dem Rücksitz einer Karosse von einem heißhungrigen Giles gierig verschlungen worden, der verkündet hatte, diese Erfahrung sei ein echtes Wunder.
Wilhelmina riss nun am Klingelzug, und einen Augenblick später wurde die schwarz lackierte Tür von einer jungen Frau geöffnet, die in der blauen Uniform eines Dienstmädchens gekleidet war. Sie starrte die Neuankömmlinge teilnahmslos an und sagte kein Wort.
»Wir sind gekommen, um Dr. Thomas Young zu besuchen«, verkündete Mina. »Ich glaube, er hält sich derzeit hier auf.«
»Ich muss Ihnen mitteilen, dass Dr. Young mit seiner Familie zusammen ist. Er empfängt heute keine Patienten.«
»Wir sind keine Patienten«, entgegnete Mina forsch. Sie war keinen Moment darüber irritiert, dass sie sich nun in einer Epoche befand, in der die Menschen nicht mehr die Anrede »Euch«, benutzten. »Wir sind Forscherkollegen. Seien Sie versichert, dass wir ihn nicht stören würden, wenn es sich nicht um eine Angelegenheit von höchster Bedeutung und größtem Interesse für ihn handelte. Bitte teilen Sie Dr. Young mit, dass wir aus Ägypten gekommen sind und wichtige Informationen für seine bevorstehende Expedition mitbringen.«
»Wenn Sie bitte hier draußen warten möchten ... Ich werde es ihm erzählen.« Das Mädchen drehte sich um und schloss die Tür.
Eine Minute später wurde sie wieder geöffnet – allerdings nur ein paar Spaltbreit und diesmal von einem bärtigen Mann, der eine Brille mit rundem, stählernem Gestell und einen Gehrock trug. »Ich grüße Sie, meine Freunde. Wie kann ich Ihnen zu Diensten sein?«
»Guten Tag, Dr. Young«, erwiderte
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