Das Knochenhaus
sich weiter durch den Schneematsch, der die Straßen der Stadt bedeckte. Es war eine lange, schlaflose Reise in einer kalten und ungemütlichen Kutsche gewesen; und die Mutter hatte fast alles von ihren geringen Geldmitteln aufgebraucht, um die Fahrscheine zu erwerben, die sie bis hierhin gebracht hatten. Nichts mehr war übrig geblieben, um sich Nettigkeiten wie eine Droschke oder Notwendigkeiten wie warme Brötchen zu erlauben. Um ihren kleinen Sohn vom Hunger und der Kälte abzulenken, erzählte die Mutter ihm Geschichten über seinen Vater und vom Herrenhaus, an dem er sich aufgrund seines Geburtsrechts bald würde erfreuen dürfen.
Schließlich verließen sie die High Street und betraten eine breite Allee, die von großen Backsteinhäusern gesäumt wurde. Hier hielten sie an, um erneut eine Pause einzulegen.
»Ich bin müde«, jammerte der Junge.
»Es ist nur noch ein bisschen weiter«, munterte ihn die Mutter auf. »Wir sind fast da.« Sie zeigte auf ein großes graues Steinhaus am anderen Ende der Straße. Es besaß drei Stockwerke, und zur Rechten und Linken breiteten sich großzügig entworfene Seitenflügel aus. Ein hoher Eisenzaun umgab das Anwesen; das Gebäude selbst stand in hervorstechender Abgeschiedenheit inmitten einer riesigen Gartenfläche am Ende einer prachtvollen, beeindruckenden Auffahrt. »Siehst du, Archie? Das ist sein Haus. Es wird Kettering House genannt, und es ist wirklich sehr schön.«
Sie war nur zwei Mal dort gewesen, kannte den Ort aber gut. Beim ersten Mal war sie als nicht eingeladener Gast zu einem Sommerfest auf dem Rasen gekommen. Der Anlass war der Geburtstag eines prominenten Mitglieds des Hochadels und entfernten Angehörigen des Königshauses gewesen; und sie, die erst kurz zuvor aus London eingetroffen war, um ihre beste Freundin zu besuchen, hatte sich ihr einfach angeschlossen. »Komm doch mit, Gem«, hatte ihre Freundin sie gedrängt. »Es wird solch ein Vergnügen sein. Dort werden so ungemein viele Leute sein – niemand wird überhaupt wissen, dass du da bist. Und Vernon Ashmole ist der bestaussehende Mann, den du je gesehen hast.«
So angestachelt überwand sie ihren intuitiven Widerwillen, und die beiden jungen Frauen gingen zusammen dorthin. Und während es sich herauszustellen schien, dass die Hälfte der Stadt dabei mithalf, den Geburtstag jenes berühmten Einwohners zu feiern, bemerkte jemand ihre Anwesenheit: Nur wenige Minuten nachdem sie in den Garten geschlüpft waren, den man mit Lampions und Wimpeln aus roter Seide geschmückt hatte, zogen die hübschen jungen Frauen das starke Interesse des Sohnes Seiner Lordschaft auf sich.
Er stand da mit einem Weinglas in der Hand, als er die beiden jungen Damen entdeckte. Auf seinem wohlgestalteten Gesicht zeigte sich ein wissendes Grinsen, und mit dem gierigen Raubtierblick eines ausgehungerten Wolfes starrte er sie an. Dann schüttete er den Wein in einem Schluck hinunter, warf das Glas zur Seite und schritt auf die beiden zu, die halb verborgen in einem Rosenspalier standen. »Wie kommt es«, begann er und schaute dabei Gem direkt an, »dass ich jeden hier kenne – mit Ausnahme von Ihnen?«
»Oh, Vernon! Ich habe nicht gesehen, wie du dich an uns herangeschlichen hast«, sagte ihre Freundin und rang nach Luft.
»Unsinn, Juliana«, erwiderte der rechtmäßige Erbe Seiner Lordschaft, der keinen Moment lang die Augen von dem merkwürdigen weiblichen Eindringling abwendete. »Nun sag mir, wer dieses hinreißende Geschöpf ist?«
»Das ist meine beste Freundin – Gemma Burley«, antwortete Juliana, die einigermaßen erstaunt war über das Interesse des jungen Mannes an ihrer Freundin. »Sie ist von London heraufgekommen und ein paar Wochen zu Besuch hier. Ich habe sie gebeten, mich zu begleiten, da ich nicht alleine herkommen wollte. Ich hoffe, du hast nichts dagegen.«
»Oh, aber leider habe ich etwas dagegen, und zwar ganz schrecklich«, protestierte er. »Es ist ein sehr schwerer Verstoß gegen den furchtbar strengen Ashmole-Kodex des gesellschaftlichen Benehmens, meine Lieben. Man kann nicht einfach kommen und ungebeten in eine der festlichen Feiern von Lord Ashmole hereinplatzen. Das hat schreckliche Konsequenzen, versteht ihr.«
Juliana lachte. »Beachte ihn überhaupt nicht, Gem«, sagte sie und neigte den Kopf, sodass ihr flammend rotes Haar beinahe Gemmas dunkle Locken berührten. »Er macht nur Witze.«
»Ich scherze niemals über solche Dinge«, widersprach er nachdrücklich. »Es gibt
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