Das Knochenhaus
Strafmaßnahmen.«
»Was sind bitte schön die Strafen ...« – Juliana lachte mit erzwungener Fröhlichkeit – »für solch einen schwerwiegenden gesellschaftlichen Verstoß?«
Gemma lächelte nervös, da sie unsicher war, wie sie diesen frechen Burschen nehmen sollte. Doch was auch immer er war, Juliana hatte in einer Hinsicht recht: Vernon Ashmole war ein extrem gut aussehender junger Mann.
»Jeden Tanz musst du mit mir tanzen«, sagte Vernon mit einem Augenzwinkern. »Eine Bestrafung, die zwar in keinem Verhältnis zum Verbrechen steht – aber da hast du die Bescherung.« Er nahm Gemmas Hand und drängte sie aus dem schwachen Schutz der Laube hinaus auf die Rasenfläche, wo Tische mit Essen und Getränken aufgestellt worden waren und ein Bretterboden auf dem Gras lag. Ein Streicherensemble spielte gerade einen Walzer von Strauss, und Gemma wurde in das sich elegant drehende Rad der Tänzer hineingezogen.
Der Rest des Abends verging in einem schwindelerregenden Wirbel aus Musik, Wein und Gelächter. Vernon erwies sich als ein bezaubernder und aufmerksamer Freund; und bevor der lange Sommerabend vorüber war, hatte sich Gemma Burley restlos verliebt. Die aufblühende Liebesgeschichte war zu viel für Juliana, die noch in derselben Nacht die Freundschaft der beiden jungen Frauen beendete. Trotzdem war vier Jahre später Gemmas liebste Erinnerung die von jenem einen magischen Abend, als der Sohn Seiner Lordschaft ausschließlich mit ihr getanzt hatte.
An das zweite Mal, als sie sich im Inneren von Kettering House befunden hatte, wollte sie am liebsten gar nicht denken. Das war, nachdem ihr Vater, der die Schande einer unverheirateten schwangeren Tochter nicht zu ertragen vermochte, sie aus dem Haus der Familie vertrieben hatte. Vernon hatte sie zu sich nach Hause gebracht, um ihre gemeinsamen ehelichen Absichten seinem Vater bekanntzugeben. Die Szene, die sich daraus ergeben hatte, war so grauenvoll gewesen, dass Gemma sich weigerte, sich näher damit zu befassen: Sie verbannte die unglückselige Erinnerung in die äußere Dunkelheit, zusammen mit dem Bedauern, der Schuldzuweisung und der Enttäuschung der vergangenen vier Jahre.
Doch jetzt, an diesem heutigen Tag, lag eine neue Zukunft vor ihnen. Ihre Notlage mit all dem Elend und der Traurigkeit war vorbei. Wenn Vernon sie erst auf seiner Türschwelle stehen sah, würde er augenblicklich begreifen, welche Schwierigkeiten seine Säumigkeit verursacht hatte. Er würde sie umarmen und in seinem Heim – in ihrem Heim – willkommen heißen. Und dann würden sie beide den rechtmäßigen Platz in seinem Herzen einnehmen. Denn es stand außer Frage, dass Vernon sie, Gemma, liebte. Daran hatte es nie irgendwelche Zweifel gegeben – sie hatte Briefe, ganze Bündel von Schreiben, die das bewiesen: Briefe, in denen er schwor, dass seine grenzenlose Liebe und Zuneigung zu ihr unvergänglich sei. Sie hatte andere von ihm geschriebene Briefe, in denen er versprach, dass er sie heiraten würde, sobald dies möglich sei. Und wann immer er geschäftlich nach London kam, nahm er sich Zeit, um sie zu besuchen – zuerst im Magdalene Home und danach in der Wohnung, die er für sie in Bethnal Green gemietet hatte. Überdies schickte er ihnen Geld.
Sie hätten schon vor langer Zeit geheiratet, wäre da nicht der erzürnte Einspruch von Vernons Vater gewesen. Der alte Lord Archibald Ashmole nahm heftig Anstoß an dem, was er als unerlaubte Tändelei seines Tunichtguts von einem Sohn betrachtete, und drohte, Vernon zu enterben, wenn er Gemma auch nur ein weiteres Mal anblickte. Sein Sohn sollte eine Frau aus einer der aristokratischen Sippen Nordenglands heiraten – nichts anderes würde der alte Lord gelten lassen. Vor allem sollte es eine junge Dame sein, deren Familie beträchtliche industrielle Vermögenswerte besaß, zum Beispiel in der Bergbau-und Schifffahrtindustrie. Ganz bestimmt durfte es nicht irgendeine Schlampe aus dem Süden sein, die auf der falschen Seite der Themse das Licht der Welt erblickt hatte. Unnötig zu erwähnen, dass der alte Lord nichts von den Briefen, den Besuchen oder der Wohnung wusste.
Und dann war der ältere Ashmole völlig unerwartet tot umgefallen – hinweggerissen von der Weltbühne durch eine Grippewelle, die im Jahr zuvor wie eine Geißel die Nation heimgesucht hatte. Es waren ein paar Monate vergangen, bis sich der Staub gelegt hatte. Doch jetzt hatte Vernon sein Erbe vollständig angetreten und war als Lord Ashmole fest eingeführt
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