Das Koenigreich der Luefte
vielleicht noch sehr froh sein, mich in deinem Schädel herumkrabbeln zu sehen. Ja, da könntest du vielleicht noch richtig froh sein.«
»Ich bin mir ziemlich sicher, dass das nicht so sein wird«, knurrte Oliver.
»Fälle deine Entscheidungen nur nicht so schnell, Oliver. Die Dinge sind schon in Bewegung geraten. Euer seltsamer Besucher, Harry Stave. Was hältst du von ihm, Junge? Der ist schon ziemlich schwer einzuschätzen. Ein Schnorrer und Schlagtot vielleicht?«
»Ich weiß nicht …«
»Pssst«, machte der Flüstermann. »Man wird dich in ein paar Sekunden aufwecken.«
So war es dann auch.
Er war früh dran, um sich in die Bezirksregistratur einzutragen, und wie immer hatte sich Oliver so rechtzeitig vor der Polizeiwache von Hundred Locks eingefunden, dass er die Gefangenen, die in der Nacht festgenommen worden waren, bei ihrem Marsch von den Zellen bis zum kleinen Büro des Amtsrichters in der Rayner’s Street beobachten konnte. Neben den üblichen Krawallmachern, die man bei Wirtshausschlägereien ergriffen hatte, befanden sich auch einige Flüchtlinge aus Quatershift darunter: zwei Männer und eine einzelne Frau, vermutlich ihre Schwester.
Ihre Kleidung war völlig ruiniert, und Oliver vermutete, dass sie übers Meer geflohen waren, um den Fluchwall an der Grenze nach Jackals zu umgehen. Einer der Männer zitterte heftig, und seine beiden Landsleute standen offenbar so unter Schock, dass sie kein einziges Wort herausbrachten. Welche Geschichten hatte ihnen das Propaganda-Komitee der Gemeinwohlvertretung erzählt? Dass Quatershift den Zweijährigen Krieg gewonnen hatte? Dass Jackals inzwischen aktiv die Rechtsauslegung der Carlisten praktizierte? Dass es auch in Jackals eine Hungersnot gegeben hatte, nachdem alle Bauern in Komitees landwirtschaftlicher Gleichstellung gezwungen und die gebildeten kleinen Grundbesitzer in die Gideonskragen getrieben worden waren -jene dampfbetriebenen Mordmaschinen, die inzwischen die Marktplätze in Quatershift beherrschten?
Wie auch immer die Lügen gelautet haben mochten, sie hatten nicht genügt, um diese drei davor zurückzuhalten, dem Terror im Nachbarland zu entfliehen. Seit die Weltensänger der Gemeinwohlvertretung den Fluchwall errichtet hatten, waren nur noch so wenige Flüchtlinge lebend nach Jackals gelangt, dass die Richter den Shiftern inzwischen quasi automatisch politisches Asyl gewährten. Gewöhnlich wurde eine der vielen Hilfsorganisationen für Emigranten um Unterstützung gebeten. Immerhin schlichen inzwischen mehr Adlige aus Quatershift in Jackals herum als in ihrem Heimatland -jene Glücklichen, denen es gelungen war, vor der Errichtung des Fluchwalls mit ihrem Gold zu entkommen. Die weniger Glücklichen waren noch in den Lagern der Gemeinwohlvertretung eingepfercht und warteten auf ein Papier mit einer roten Nummer … nach dessen Erhalt ihnen dann ein Eisenbolzen in den Hals geschossen wurde.
Nachdem die Gefangenen die Straße hinuntergetrottet waren, klopfte Oliver an die Tür der Wache und trat ein.
»Oliver.« Sergeant Cudban, der gerade die Tür zu den Zellen abschloss, wandte ihm den Kopf zu. »Ist es schon wieder so weit?«
»Ich fürchte, ja«, sagte Oliver.
»Komm schon rein, Junge, du musst da nicht in Habtachtstellung warten. Dein kleiner Oberzauberer sitzt schon da hinten. Möchtest du eine schöne Tasse Koffeel? Der kleine Waddle hat gerade welchen gemacht.«
Oliver nickte. Sergeant Cudban war ein ruppiger, offener Oberländer, der wenig für die Weltensänger übrighatte, schon gar nicht für die überhebliche Art von Olivers persönlichem Peiniger, Edwin Pullinger, dem königlichen Bezirksinspektor von der staatlichen Irrnebel-Behörde.
»Viel zu tun gehabt letzte Nacht?«, fragte Oliver.
»Na, wie üblich. Obwohl ich gestern sogar den Pfarrer hier hatte. Irgendjemand hat politische Pamphlete ins zirklistische Gebotsbuch gelegt.«
»Pamphlete?« Oliver lachte.
»Du hättest sein Gesicht sehen sollen. Es war wohl so eine Art Zusammenfassung von Gemeinschaft und das gemeine Volk. Ich glaube nicht, dass der Pfarrer es je vorher gelesen hat, und der Gedanke, dass sich Carlisten zwischen den Bänken seiner braven zirklistischen Kirche tummeln könnten, hat ihn mächtig aufgeregt.«
Oliver zuckte die Achseln. »Ich habe das auch nie gelesen, glaube ich.«
Der Sergeant zwinkerte Oliver zu. »Dann schiebe ich dir später mal eine Ausgabe rüber, Landsmann. Hat mir nie gefallen, Jungchen, wenn man Bücher verbrennt. Das sind
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