Das Koenigreich der Luefte
wird. Eine der Vergünstigungen, die die Mädchen hier genießen. Für wie alt hältst du mich?«
»Für ein paar Jahre älter als mich. Vielleicht achtzehn?«
»Ich bin sechsunddreißig«, sagte Justine stolz. »Es heißt, in Cassarabien gäbe es Kalifen, die fünfhundert Jahre oder noch älter sind – und dort wird man auch zum Tode verurteilt, wenn man dabei erwischt wird, wie man Blahatt durch die Wüste und über die Grenze schmuggelt. Nicht all unsere Kunden stehen auf der richtigen Seite des Gesetzes, Molly.«
Molly rieb die tonartige Substanz zwischen ihren Fingern.
Auf der Straße nannte man es »Lebenslang«. Wie diese lebensverlängernde Droge gewonnen wurde, wusste niemand, und die Magier von Cassarabien hatten nie durchblicken lassen, ob eine seltene Pflanze zur Herstellung diente oder ob man sie vielleicht mittels ihrer perversen biologischen Experimente in den Bäuchen von Sklaven wachsen ließ.
»Ich hätte meinen Vertrag vor sechzehn Jahren ablösen können«, sagte Justine. »Aber wenn man einmal Geld gehabt hat, dann ist es schwer, plötzlich wieder ohne auszukommen. Viel schwerer, als wenn man immer arm gewesen ist und nichts anderes kennt. Und bei Gattie & Pierce reicht dir niemand ein Stück Blahatt einfach so über den Tresen.«
Eine kleine Messingglocke läutete, und einen Augenblick später ließ ein großer Türsteher den Gast ein.
»Hier entlang, Sir«, rief Justine dem Kunden zu. Sie ging ihm entgegen und wollte ihm seinen Stock abnehmen, aber mit einer Handbewegung lehnte der Mann ab. Auf Molly wirkte er wie ein alter Künstler. Sein gegabelter, silberner Bart lief kurz über einer sorgfältig gebundenen Krawatte in zwei spitzen Enden aus.
»Einen kleinen Augenblick, bitte, bis ich wieder zu Atem gekommen bin«, sagte der Mann. »Hier gibt es ja mehr Treppen als im Museum für Naturgeschichte.«
Er sprach mit leichtem Akzent, den Molly jedoch nicht einordnen konnte.
»Wie Sie es gewünscht haben, hier ist die Neue, Sir«, sagte Justine. »Obwohl ich glaube, dass Sie auch noch nie die Bekanntschaft unserer anderen Damen gemacht haben?«
»Meine freie Zeit verbringe ich gewöhnlich damit, die Orchideen in meinem Treibhaus zu pflegen oder mir ein gut gespieltes Stück Kammermusik anzuhören«, sagte der Mann. »Aber ich bin sicher, dass sie genau die Richtige für mich ist.«
Justine wandte sich zum Gehen. »Läuten Sie einfach die Glocke, wenn Sie fertig sind, Sir. Ich oder eine der anderen Damen werden Sie dann auf verborgenem Wege nach draußen führen. Um das Risiko zu vermeiden, dass Sie beim Hinausgehen einem anderen Gentleman begegnen.«
»Ja, ich verstehe, das könnte sehr peinlich sein«, sagte der alte Mann. »Obwohl ich es vorziehen würde, wenn Sie einen Augenblick bei mir und Molly bleiben würden.«
»Wenn Sie eine zusätzliche Begleiterin wünschen, Sir, kann ich das arrangier –« Verblüfft unterbrach sie sich. »Aber ich habe Ihnen doch gesagt, dieses Mädchen hieße Magdalene …«
»Sie verstehen mich falsch, meine Liebe. Ich brauche kein weiteres Mädchen«, sagte der alte Mann. Eine stählerne Klinge fuhr zischend aus seinem Stock, und mit einem Ruck durchschnitt er Justines Kehle. »Ich brauche eine Zeugin weniger, die sich an mein Gesicht erinnern kann.«
Justine würgte an ihrem eigenen Blut, stolperte und fiel im Sterben gegen den grünen Glockenzug aus Filz, den die Mädchen benutzen sollten, falls ein Kunde gewalttätig wurde. Die Tür sprang mit einem Krachen auf, und der Türsteher stürmte ins Zimmer; in seiner schweren Faust hielt er einen bleiernen Totschläger aus Polizeibeständen. Molly wartete nicht, bis der Aufpasser den alten Mann in die Ecke drängte; sie rollte sich über die samtenen Laken und suchte mit den Augen nach einer Fluchtmöglichkeit. Das Fenster war zum Aufziehen und mit Gittern gesichert; die Tür war offen, allerdings von zwei Männern verstellt, aber dann fiel ihr Blick auf den kalten Kamin. Sie war in engeren Luftschächten herumgeklettert. Vor dem Zusammenbruch des Hochhauses von Blimber Watts. Die Erinnerung an das letzte Mal, dass sie in eine solche Enge gekrochen war, überwältigte sie. Wie konnte sie das jemals wieder versuchen?
Der Aufpasser stieß ein seltsames Keuchen aus. Einer seiner Arme war unterhalb des Ellenbogens abgetrennt worden, und Blut schoss wie eine Fontäne aus dem Stumpf. Der Stock des alten Mannes hatte sich in zwei Klingen geteilt, die nun einen seltsamen, beinahe hypnotischen Tanz vor dem
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