Das Koenigreich jenseits der Wellen - Roman
darüber nach, Veryann, wieso ein Kind von einem silbernen Teller isst und warm unter wollenen Decken schläft, während ein anderes hungrig in ein Bett kriecht, in dem schon zwölf andere, ebenso verzweifelte Kinder liegen? Fragen Sie sich niemals, welche Unterschiede in Schicksal, Motivation oder Entschlossenheit zu den schrecklichen Ungleichheiten in diesem unserem Land führen?«
Veryann bog in Drury Dials ein und lenkte das summende Fahrzeug zum Haus der Hüter. »Gerade Sie sollten doch die Antwort darauf kennen, Abraham Quest – als Armenhäusler-Kind, das es so weit gebracht hat. Die Starken und Schlauen und Schnellen kommen durch, die Schwachen nicht. Das ist in der Natur überall so.«
»Ah ja, die Antwort einer wahren Soldatin aus den Stadtstaaten.« Quest warf einen traurigen Blick zurück. »Ich war einmal genauso wie dieser kleine Straßenbengel. Genau so. Es ist, als sähe ich in einen Spiegel von vor dreißig Jahren. Aber die Dinge müssen nicht so sein.«
Sie trafen sich im StrAandswitch Club, zwei Straßen vom Parlament entfernt. Der Erste Hüter hatte ein köstliches Gespür für Ironie. Bevor die Partei der Gleichmacher bei den letzten Wahlen an die Macht gekommen war, wäre Benjamin Carl vermutlich der letzte Mensch im ganzen Königreich gewesen, den man in Middlesteels angesehensten politischen Club aufgenommen hätte.
Nun hatte das Komitee keine andere Wahl, als ihn zuzulassen.
Hüter und Beamte, die in Greenhall beschäftigt waren, sahen Abraham Quest zu, wie er über den weichen Teppich schritt, vorbei an den Ledersesseln, und auf ihren Gesichtern lag ein so verblüffter Ausdruck, als hätten sie auf dem Straßenpflaster einen kupfernen halben Penny entdeckt. Galt dieser Blick ihm oder seinem Reichtum? Er kannte die Antwort bereits. Geld war gleichbedeutend mit Macht und Berühmtheit, und das war wie eine Linse, die den Blick auf seine wahre Person für alle, die ihn betrachteten, verzerrte. Für alle außer jenem Politiker, mit dem er sich hier treffen wollte, und der von derartigen Überlegungen stets seltsam unberührt schien. Es war einer der Gründe, weshalb sie sich so gut verstanden.
»Erster Hüter«, erklärte der Butler des Clubs. »Ihr Gast ist eingetroffen.«
Benjamin Carl legte seine Ausgabe der Middlesteel Illustrated News beiseite und deutete auf den Sessel auf der anderen Seite des kleinen Tischchens, das den Rahmen seines Rollstuhls verdeckte.
»Neutraler Boden, Benjamin?«
»Die Gerüchteküche würde überkochen, wenn ich Sie in meinem Büro im Parlament empfinge«, erwiderte Carl.
»Und es gäbe vielleicht weitere Spekulationen hinsichtlich meiner Spenden für die Gleichmacher-Partei?«
»Ja, es ist schon eigentümlich, wie schnell sich der
Respekt abnutzt, den man in der Opposition für die hartnäckige Dreistigkeit der Dock-Street-Schreiblinge hatte, sobald man die Mehrheit gewonnen hat.«
»Die Meinungsfreiheit ist eine der großen Errungenschaften unserer Zivilisation«, bemerkte Abraham und nahm die Zeitung zur Hand. Die Titelseite zierte eine mit wenigen Strichen gezeichnete Karikatur: Der Erste Hüter blickte auf eine Schar Parlamentarier der Oppositionsparteien, die sich mit ihren Debattierstöcken bekriegten, und eine Wolke von Beleidigungen schwebte über den absichtlich in Puppengröße gehaltenen Politikern. Benjamin Carls Rollstuhl war als Streitwagen mit eisernen Dornen dargestellt, dessen Räder die radikaleren Mitglieder seiner eigenen Partei zermalmten. Eine Sprechblase ging von Carls grinsendem Gesicht aus: »Dieser Ritt wird euch zu hart werden, liebe Landsleute.«
»So ist es.« Der Erste Hüter nickte und prüfte mit einem Blick, ob sich die anderen Gäste außer Hörweite befanden. »Und ich dachte, vielleicht könnten wir heute tatsächlich ein paar offene Worte sprechen, Abraham.«
»Vom aufrührerischen Autor eines Werkes wie Gemeinwohl und das gemeine Volk hätte ich nichts anderes erwartet.«
Carl ignorierte den Seitenhieb auf sein Buch, das auf der Schwarzen Liste gestanden hatte, bis er zum Ersten Hüter gewählt worden war. »Die offenen Worte betreffen Ihre Handelsinteressen.«
»Wieder eine Spende vielleicht? Ich hörte, dass sich
das Parlament bei den von Ihnen vorgeschlagenen Arbeitsreformen schon wieder querstellt. Ich versuche, mit Haus Quest ein Zeichen zu setzen.«
»Mich interessieren nicht so sehr die Arbeitsbedingungen in Ihren Unternehmen – die lange Schlange von Arbeitern, die sich um eine Anstellung
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