Das Koenigreich jenseits der Wellen - Roman
gelang. Über ihnen trieb eines der Schwesterschiffe der Leviathan dahin, versuchte aber nicht, an dem hohen, schlanken Turm anzulegen, sondern blieb gefechtsklar, mit kampfbereit geöffneten Geschützluken. Irgendetwas brachte Amelia zu der Vermutung, dass der Aerostat nicht auf weitere Skrayper wartete, die versuchen würden, die Eindringlinge aus ihrem Revier zu vertreiben. Und dann fiel es ihr ein. Natürlich. Sie hatte von Kommodore Black genügend Räuberpistolen über die Wolfschnapper gehört, davon, wie sie die letzte Royalistenflotte in Porto Principe erwischt und ausgeräuchert hatten. Nun hatte der Wolkenrat hier oben in den Lüften plötzlich einen Rivalen, und es war nur eine Frage der Zeit, bevor seine Leute den unerwarteten Neuankömmlingen einen Besuch mit ihren finsteren schwarzen Aerosphären abstatten würden, damit sie ihnen die Fragen beantworteten, die dem Wolkenrat sicherlich unter den Nägeln brannten. Kein Wunder, dass Quests kartographische Erfassung der Stadt mit der Präzision eines militärischen Einmarschs geplant worden war. Er war wirklich ein ungeduldiger Mensch. Aber der Wolkenrat würde sich doch sicher nicht in ein wissenschaftliches Forschungsprojekt über der Tintensee einmischen? Andererseits war Quest im Besitz von Luftschiffen, die ihn zur ersten
Konkurrenz der jackalianischen Hochflotte machten, seit der Patentpirat Newton Angst und Schrecken am Himmel verbreitet hatte. Würde die geheimbündlerische Politpolizei von Jackals Quests Aktionen milder bewerten als die des verrückten, bösen Newton? Vermutlich nicht; sie standen nicht gerade in dem Ruf, besonders nachgiebig zu sein.
Amelias Höhenmantel war noch immer mit vielen kleinen Holzwolleflöckchen bedeckt, die aus der Kiste stammten, aus der sie das Kleidungsstück vor einer halben Stunde herausgezogen hatte. Sie bürstete die Schnipsel von ihrem Pelzkragen, und einige Flocken fielen auf den makellos sauberen Bürgersteig. Es dauerte keine Sekunde, und ein Schlitz öffnete sich an der Seite des Regenwasserkanals, und eine flache Scheibe mit sehnigen Beinen huschte heraus, eilte zu den Holzflocken und verzehrte sie, bevor sie dann wieder in die Dunkelheit glitt. Amelia tastete nach dem Schlitz an der Bordsteinkante, aber er war ebenso spurlos verschwunden wie das kleine Reinigungswesen. Kein Wunder, dass keine mumifizierten Körper in den Straßen und Gebäuden lagen. Der Staub der Opfer war mit Hilfe der letzten Energiereserven der Stadt beseitigt worden, noch bevor die letzte Kaltzeit die Welt mit Eis bedeckt hatte. Es lag etwas schrecklich Trauriges darin. Diese Stadt lebte, aber ihre Menschen nicht – und eine Stadt ohne Menschen, die sie bevölkerten, hatte kaum einen Sinn.
Als sie an einem ovalen Stand vorüberkam, drückte
Amelia einen noch funktionierenden Sensor, und über dem Tresen erschienen schimmernd Kopf und Schultern einer Frau. »Kalour Iso? Kalour Isotta?«
Es hatte keine Tonaufzeichnungen der camlantischen Sprache gegeben, aber Amelia hatte die Schriftsprache der Kristallbücher genau untersucht, viele Überlegungen über die korrekte phonetische Umsetzung angestellt und über die verschiedenen Möglichkeiten mit anderen Sammlern und begeisterten Camlantisforschern in ihren Amateurzeitschriften debattiert.
Information heute. Information jetzt.
War es eine Aufforderung oder ein Angebot? Mehrere sich drehende Figuren erschienen neben dem Gesicht, als Amelia näher trat, und sie streckte instinktiv die Hand aus, um eine zu berühren. Daraufhin erschien eine Liste von Symbolen, als jede Figur eine Reihe von Unterpunkten enthüllte. Diese wiederum verstand sie: Es war dieselbe Schrift, die an den Universitäten von Jackals rekonstruiert worden war. Theaterstücke. Feste. Bildung. Ratsdebatten. Übereinkunftsdebatten. Und ganz oben über dieser Liste prangte ein Ausdruck, den sie zuvor noch nie gesehen hatte – NEUESTE FEINDLICHE ANGRIFFE. Selbst im alten Camlantis war die Kriegsberichterstattung offenbar an erste Stelle gerückt. Amelia aktivierte das Symbol, und das Gesicht der Frau begann so schnell zu sprechen, dass sie kaum folgen konnte; nur einige Wörter ihrer Ausführungen waren für Amelia verständlich. Aber die Bilder, die dazu aufleuchteten, sprachen eine umso deutlichere Sprache.
Stetes Vorrücken. Ein Meer stinkender Benzinstreitwagen, aus der Luft gesehen, eine enorme Staubwolke hinter den vielen Tausend dornbewehrten Rädern, die über den Boden rasten. Eine Nahaufnahme zeigte nun
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