Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Koenigreich jenseits der Wellen - Roman

Das Koenigreich jenseits der Wellen - Roman

Titel: Das Koenigreich jenseits der Wellen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen Hunt
Vom Netzwerk:
er von dem Alten halten sollte. Es kam nicht oft vor, dass sich ein Blinder in die Elendsquartiere von Rottenbow wagte. Was trieb jemand, der eine schwere graue Kutte nach Art eines zirklistischen Mönchs trug, zu so später Stunde in einen der gefährlichsten Stadtteile Middlesteels? Smike lauschte dem Klappern des knorrigen alten Stocks, der über das Straßenpflaster zwischen den uralten, verfallenen Hochhäusern tappte.
    Einen Augenblick erwog Smike, den alten Blödmann immer tiefer nach Rottenbow hineintapern zu lassen, aber obwohl er nur über ein recht großzügig eingestelltes Gewissen verfügte, konnte er das nicht zulassen. Smike holte ihn mit ein paar Sprüngen ein. Der blinde Besucher sah wie ein alter Mann aus, war für seine Jahre aber noch sehr behände.
    »Großväterchen«, rief Smike, »warte mal. Weißt du, wo du hingehst?«
    »Nun, aber sicher doch, das weiß ich«, sagte der Blinde, dessen Gesicht von seiner Kapuze und der Nacht beschattet war. »Ich gehe nach Furnival’s Wark.«
    Smike zog an seiner Nuschelrauch-Pfeife. »Alter Junge, dort gibt es nichts außer dem Armenfriedhof.«

    »Ja, und ich glaube, dass ein alter Freund von mir sich dort ausruht.«
    »Nun warte trotzdem mal, Großväterchen, weißt du, wie spät es ist?«
    »Für mich ist es immer Nacht«, erklärte der Mann in der Kutte mit einem Schnauben.
    »Es wird aber richtig Nacht für dich werden, Gevatter.« Smike zupfte an den Kleidern seines Gegenübers. »Du wirst ganz schön in die Klemme geraten, wenn du mit deinem Stock in den Gässchen herumtappst. In Rottenbow sind ein paar ganz schön üble Schläger unterwegs. Die denken sich nichts dabei, dir eine Klinge in die Rippen zu rammen und deine Taschen zu leeren.«
    »Aber ich habe so wenig, das sich zu stehlen lohnen würde«, sagte der Mann, »nun, da du mir mein Geld genommen hast.« Damit schoss der Stock des Blinden hervor und schlug die gestohlene Börse aus den Falten von Smikes zerlumpter Jacke. Wie die Zunge einer Kröte schoss eine knotige, kalte Hand hervor, griff nach dem Lederbeutel und versteckte ihn wieder unter der Kutte.
    Smike trat einen Schritt zurück und verschluckte sich überrumpelt am Rauch seiner Pfeife. »Du kannst es einem jungen Burschen aber nicht verdenken, dass er es versucht, oder? Bist du wirklich blind, Gevatter?«
    »O ja«, schnaubte die Gestalt in der Kutte. »Die Augen sind das Erste, was man verliert. Die Behandlung kann alles andere erhalten, aber die Augen nicht.«
    Smike sah sich unruhig um. Er hatte den blinden alten
Narren für leichte Beute gehalten. Aber offenbar war er verrückt oder zumindest irgendetwas Ähnliches.
    »Sag mir doch mal, haben sie dort unten am Armenfriedhof schon Sechsnieten beerdigt?«
    »Den Dampfmann?«, fragte Smike zurück. »Von seinem Körper liegt nicht mehr viel auf dem Friedhof, Gevatter. Als Sechsnieten gestorben war, ließ der staatliche Leichenbeschauer seine Seelenplatine, wie es das Gesetz erfordert, zu König Dampf in die Berge schicken. Der Rest des alten Dampfers war so alt, dass der König Sechsnietens Eisenknochen nicht einmal zur Wiederaufbereitung zurückhaben wollte.«
    »Aber die Beerdigung war schon?«
    »Gestern. Seine Freunde von Steamside kamen und sangen mit ihren seltsamen Stimmen in der Maschinensprache. Obwohl Sechsnieten unbedingt hier begraben sein wollte und nicht im Dampfmann-Viertel, kamen sie doch.«
    »Sie wären immer gekommen«, sagte der Alte. »Dampfmänner vergessen die Angehörigen ihres Volkes nicht. Nun aber fort mit dir.«
    Smike flitzte hastig in eine kleine Gasse, dann hielt er inne. Ihm war ein Gedanke gekommen. Der alte Ziegenbock hatte sich verdächtig stark für Sechsnietens Leiche interessiert. Er war ein Grabräuber! Die Mechomaniker von Middlesteel öffneten oft die Gräber der Dampfmänner und schändeten die Toten, indem sie versuchten, mittels der rostenden Kristalle und verwitterten Zahnrädchen hinter die Geheimnisse ihrer
Konstruktion zu kommen. Sechsnieten war so uralt und überholt gewesen, dass die Anwohner der Dwerrihouse Street geglaubt hatten, es sei sicher, ihm seinen letzten Wunsch zu erfüllen und ihn wie alle Übrigen am Ende der Straße zu begraben. Dieser blinde alte Mann musste wohl verzweifelt sein. Kein Wunder, dass er mitten in der Nacht durch die besonders ungesunden Viertel der Hauptstadt schlich. Er ging seinem dreckigen Gewerbe nach.
    Smike steckte den Kopf um die Ecke und sah, wie die Gestalt in Richtung Friedhof schlurfte. Smog

Weitere Kostenlose Bücher