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Das Königshaus der Monster

Titel: Das Königshaus der Monster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Barnes
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So verließen Mama und ich die Station unter dem Stereogewieher von zwei Menschen, deren Verstand sich gerade auf Nimmerwiedersehen verabschiedete.
     
    Wir hasteten durch das Krankenhaus, so rasch wir konnten. Überall waren die Betten leer, und die Patienten – selbst die schlimmsten Fälle, die Schwerkranken und Bettlägerigen – waren mitsamt ihren Schienen und Bandagen auf den Beinen, zogen ihre Schläuche hinter sich her und irrten scharenweise und ziellos durch die Gänge. Später erfuhr ich, dass einer der Ärzte, nachdem er von einer längeren Zigarettenpause im Freien zurückgekommen war, angeordnet hatte, jedes einzelne Fenster auf jeder Krankenstation zu öffnen, damit der schwarze Schnee herein- und gierig über all jene wirbeln konnte, die sich in der Obhut von St. Chad befanden. Das Personal war bestrebt, die Ordnung aufrechtzuerhalten, und tat sein Möglichstes, alle wieder an ihren Platz zu bringen, aber die Kranken, die Alten und die Siechen wollten nichts davon hören und entwanden sich jedem festen Griff. Und am erschreckendsten fand ich, dass es mir schon schwerfiel, das Personal von seinen Schützlingen zu unterscheiden – die Wärter von den wilden Tieren.
    Während wir uns an dem Getümmel vorbeidrängten, hatte ich das Gefühl, einer der Ersten zu sein, der ahnte, was da vorging, der Erste, der den Ernst der Lage erkannte – wie der Mann, der sofort aufs Hauptdeck der Titanic stürzte, als weiter unten Wasser ins Schiff eindrang, nur um hilflos mitzuerleben, wie die Band sich darum zankte, welches Stück als Nächstes zu spielen sei.
    Als wir den Ausgang erreichten, wollte Mama nicht mehr mitkommen. Sie schien bei den Patienten bleiben zu wollen, und ich musste beträchtliche Kraft aufwenden, um sie aus der Tür zu schieben, hinaus in die Dunkelheit und den Schnee. Hinter uns wurde die Lage immer schlimmer. Ich drehte mich nicht um, aber ich hörte die ziellos umherschlurfenden Schritte, das Krakeelen und das wilde Gelächter; der Flächenbrand des Irrsinns breitete sich aus.
     
    Die Straßen waren verstopft; überall stauten sich die Fahrzeuge voller Menschen, die der Stadt zu entfliehen versuchten. Dauerhupen und ärgerliches Geschrei ertönten rundum, Fäuste erhoben sich, und von den Lippen hinter den Windschutzscheiben konnte man erboste Wortwechsel und Schimpfkanonaden ablesen – grimmige Wut, hinter der sich das unzähmbare Aufwallen von Panik verbarg. Eine Weile stapften wir so dahin, wobei ich meine widerwillige Mutter, die sich in dem dichten schwarzen Schneefall geradezu suhlte, halb hinter mir herzerren musste, bis ich wie durch ein Wunder ein Taxi vorbeischleichen sah, dessen »Frei«-Schild immer noch leuchtete. Misstrauisch blieb der Fahrer stehen, aber erst als ich mit einem Bündel Scheinen wedelte, schien er dem Gedanken, uns einsteigen zu lassen, etwas abzugewinnen. Ich gab ihm alles Geld, das ich hatte, und trug ihm auf, uns zum Haus in Tooting Bec zu bringen. Mutter meckerte immer noch herum und murmelte dazwischen düster vor sich hin, aber ich legte ihr den Gurt an und forderte sie – artig und sehr liebevoll – auf, sich zu benehmen und den Mund zu halten.
    Wir waren gerade eben Camberwell Green entkommen, als mein Handy wie aus Anteilnahme mit den bedrückenden Vorgängen rundum in der Jackentasche erzitterte.
    Die Verbindung surrte und krachte wie die Tonspur eines alten Kinofilms, und ich benötigte eine Minute, bis ich die Stimme erkannte.
    »Henry? Ich bin’s.«
    »Wer?«
    »Mister Jasper. Obwohl ich meine, dass Sie es jetzt erfahren sollten. Mein Name … mein wahrer Name … Ich heiße eigentlich Richard Price.«
    Ich dachte kurz nach. »Sollte mir der Name irgendetwas sagen?«
    »Nein. Ich dachte nur … ich dachte, Sie sollten meinen wirklichen Namen erfahren.«
    »Vielen Dank.« Mir fiel ehrlich nichts ein, was ich noch hätte sagen können. »Wie geht es denn?«
    »Langsam zu Ende.«
    Ich fragte ihn – nicht ohne ein gewisses Ausmaß an Ungeduld –, was, um alles in der Welt, er damit meinte.
    »Ich bin in einem Hotelzimmer«, sagte er. »In einem teuren. Einem sauberen. Es ist so unendlich wichtig, denke ich, an einem sauberen Ort zu sterben.«
    »Was tun Sie dort? Könnt ihr Leute denn nichts unternehmen gegen dieses Zeug? Diesen Schnee? Der bringt die Menschen um ihren Verstand!«
    Jasper lachte leise und nachsichtig in sich hinein wie eine Mutter, deren kleiner Junge nicht aufhören will, über seinen ersten Schultag zu schnattern. »Ich habe

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