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Das Königshaus der Monster

Titel: Das Königshaus der Monster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Barnes
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Leute mir sagtet, nie wieder erwachen würde!«
    »Er wurde auf eigenen Wunsch entlassen«, erklärte die Schwester so fröhlich, als käme es jeden Tag ihres Arbeitslebens vor, dass komatöse Siebzigjährige aus dem Bett hüpfen und zum Ausgang rennen. »Er sagte, er hätte Dringendes zu erledigen. Aber er ließ Ihnen eine Nachricht zurück. Drüben, neben dem Bett.«
    Ich ging hinüber zu dem dürftigen Krankenhausbett, auf dem der alte Lumpensack so lange aufgebahrt gelegen hatte, und sah, was die Schwester meinte. Da lag eine Nachricht für mich, hingekritzelt auf einem Blatt, das von einem Notizblock stammte.
     
    Lieber Henry,
    geh nach Hause.
     
    Darunter befand sich seine übliche unleserliche Unterschrift. Und noch weiter unten stand ein Postskriptum:
     
    Ich meine es ernst. Geh nach Hause!
     
    Nichts sonst. Nur das. Und dabei hoffte ich doch so sehr auf Antworten …
    Die Krankenschwester sagte: »Sie brauchen sich um ihn keine Sorgen zu machen. Er ist bei Freunden. Ich sah sie vom Fenster aus.«
    »Bei Freunden? Welche Freunde?«
    »Zwei Männer in sehr komischen Aufzügen. Waren gekleidet wie …«
    »Ich weiß, wie sie gekleidet waren«, unterbrach ich sie.
    Sie lachte. Und dieses Lachen hatte einen unanständigen Beigeschmack; es klang, als hätte man sie plötzlich an irgendeiner intimen Stelle gekitzelt. »Sie wissen, was auf uns zukommt, nicht wahr?«
    »Wie bitte?«
    Wiederum dieses unangenehme sinnliche Lachen. »Die Stadt ist reif. Leviathan ist auf dem Weg, um sie zu pflücken.«
    »Was sagen Sie da?«
    Hinter uns wurde die Tür aufgerissen, und jemand betrat lautstark den Saal. Die Krankenschwester wandte sich abrupt ab und widmete ihre ganze Aufmerksamkeit wieder der einfallenden Dunkelheit draußen.
    Ich hörte meinen Namen rufen und hatte kaum Zeit, das Klappern der Absätze und den vertrauten Geruch ihres Parfums zu identifizieren, als sie mich schon überfiel und in ihre fleischigen Arme schloss.
    »Ach, Henry …!«
    »Hallo, Mama«, sagte ich.
    Sie war über und über mit diesen Schneeflocken bedeckt. Sie klebten in einer dicken Schicht an ihren Kleidern, und obwohl einige immer noch an ihrem Haar und an den Augenbrauen hingen, war der Rest wohl längst geschmolzen und in ihre Haut eingedrungen.
    »Er ist ein Scheißkerl, Henry! Ich war nur die Letzte in einer langen Reihe! Eine Kerbe an seinem Bettpfosten!« Sie unterbrach sich, denn mittlerweile hatte sie bemerkt, was geschehen war. »Wo ist er? Wo ist der alte Lumpensack?«
    »Er ist weg. Offenbar hat er der modernen Medizin ein Schnippchen geschlagen und ist davongestürmt.«
    Mama klang wie vor den Kopf geschlagen. »Das kann nicht stimmen, oder? Das ist einfach unmöglich!«
    Die Schwester am Fenster wandte uns das Gesicht zu – so langsam, als stünde sie unter dem Einfluss schwerer Drogen. »Leviathan ist auf dem Weg!« Frömmelnde Verblendung sprach aus ihrem Gesicht. »Was für ein glorreicher Tag!«
    Eine Sekunde lang starrte Mama sie nur an, dann rang sie plötzlich atemlos nach Luft, taumelte vorwärts und krachte gegen einen Stuhl, der umfiel und über den Boden schlitterte.
    »Mama? Was hast du denn?«
    Mit einem Mal wirkte sie furchtbar alt. »Ist schon in Ordnung«, murmelte sie. »Keine Ahnung, was da los war mit mir. Nur ein kleiner Schwindelanfall.«
    »Ich denke, wir sollten gehen.«
    »So viele, Henry! Diese Scharen von Frauen! Und nicht einmal nur Frauen! Es war das Einzige, worüber er reden wollte! Ich konnte es nicht mehr aushalten.«
    »Gehen wir, Mama. Ich glaube, wir sind hier nicht mehr sicher.«
    »Nicht sicher?« Mutter sah mich verängstigt an. »Warum, um Himmels willen, ist es nicht sicher? Ist Gordy hier? Ist es das?«
    »Komm zu mir nach Hause. Ich glaube, du solltest jetzt nicht allein bleiben.«
    Unvermittelt und ohne Vorwarnung lächelte Mutter wieder – auf eine benommene, glückselig-debile Art. »Hast du das Wetter gesehen, Henry? Es ist herrlich, nicht wahr? Einfach herrlich!«
    Ich quittierte ihre Worte mit einem kurzen Grunzen, packte sie am Arm und schob sie energisch zur Tür.
    »Leviathan kommt!«, sagte Mama. »Leviathan kommt auf die Erde!«
    Diese Worte verursachten mir beinahe Übelkeit, aber ich bemühte mich, nicht zu zeigen, wie widerlich sie mir waren. »Los, raus mit uns beiden«, sagte ich. »Ich bringe dich nach Hause.«
    Als wir den Raum verließen, hörte ich, wie die Schwester zu lachen begann, und es dauerte keine Sekunde, bis der alte Mann auf dem Bett mit einstimmte.

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