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Das Königshaus der Monster

Titel: Das Königshaus der Monster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Barnes
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Boden, auf Dächer und Motorhauben, als hätte er nicht vor, sich je von der Stelle zu rühren, als plane er einen langen Aufenthalt. Er schien überhaupt nicht schmelzen zu wollen, auch nicht im Stadtzentrum, wo echter Schnee kaum eine Stunde lang überlebt.
    Der einzige Ort, wo er das tat, was er tun sollte, war menschliche Haut. Dort schmolz er unmittelbar nach seiner Landung, sickerte in die Oberhaut und schlich sich in die Poren. O ja, dort schmolz er mit Freuden! Dieses Zeug liebte den menschlichen Körper, und wir alle waren nichts als Schwämme für ihn, waren wie Löschpapier für Tinte.
    Seltsamerweise mit Ausnahme meiner Person. Dieser Schnee glitt in Sekunden von meiner Haut ab, so als könnte er keinen Weg finden, der ihm Einlass gewährte.
     
    Der Schnee hatte gerade angefangen zu fallen, als die Klinik anrief, um mir die Neuigkeit mitzuteilen.
    Ich nahm mir ein Taxi und ließ mich nach St. Chad bringen. Unterwegs bat ich den Fahrer, vor einem Bankautomaten anzuhalten, und hob zweihundert Pfund ab. Ich hatte das komische Gefühl, dass ich das Geld brauchen würde.
    In den Straßen, die wir passierten, hatte die Panik ganz offensichtlich bereits eingesetzt. Viel früher als sonst – es war noch nicht einmal Mittagszeit – hatten die Menschen ihre Arbeitsplätze verlassen und sich wortlos auf den Weg nach Hause zu ihren Familien gemacht. Die Supermärkte waren gesteckt voll mit Hysterikern, die Unmengen von lange haltbaren Waren an sich rissen und ihre Einkaufswagen mit Bohnen und Ananasstücken und Frühstücksflocken vollstopften. Alle anderen verschlossen, was eben möglich war: Überall in der Stadt wurden Fenster verriegelt, Vorhänge zugezogen, Türen versperrt.
    Ich hingegen konnte an mir Symptome ganz eigener Art beobachten. Das kleine Gerät, das Steerforth mir in der Nacht, als die Präfekten entkommen waren, ins Ohr eingesetzt hatte, fiel plötzlich heraus und klatschte auf den Boden des Taxis wie eine tote Zecke – schrumpelig und harmlos. Ich setzte meinen Fuß darauf und zertrat es zu Matsch.
    Dann holte ich mein Handy heraus und tippte eine Nummer ein. Abbey hob sofort ab, und ich stellte mir ihr schönes Gesicht vor, das von einer sorgenvollen Miene verdüstert wurde.
    »Henry, Liebling! Geht’s dir gut?«
    Selbst angesichts der Welt, die dabei war, zu einem Albtraum zu werden, verspürte ich ein Gefühl übermütigen Stolzes: Es war das erste Mal, dass sie mich mit diesem Kosenamen bedacht hatte! Mit irgendeinem Kosenamen, wenn ich es recht überlegte …
    »Mir geht’s gut«, sagte ich. »Und dir?«
    »Ich bin immer noch daheim. Hatte keine Lust, heute zur Arbeit zu gehen.«
    »Sehr klug von dir.«
    »Wo bist du jetzt?«
    »Ich fahre in die Klinik. Dann komme ich nach Hause.«
    »Ich habe so ein scheußliches Gefühl bei alledem. Beeil dich, um Himmels willen!«
     
    In der Klinik herrschte die gleiche Atmosphäre unterdrückter Panik – als wäre eine feindliche Armee im Anmarsch, und wir müssten uns alle auf eine lange Belagerung gefasst machen. Der Saal, in dem Großvater gelegen hatte, war leer bis auf einen alten Mann, der flach ausgestreckt auf dem Rücken lag, asthmatisch und stoßweise atmete und halblaut vor sich hin murmelte. Ich konnte nicht gut verstehen, was er sagte, aber es hörte sich nach Reue an, nach Selbstmitleid und Bedauern über versäumte Gelegenheiten – über die kümmerliche Vorhersehbarkeit seiner Entscheidungen.
    Die gewohnte Krankenschwester stand am Fenster und sah zu, wie sich der Himmel schwarz überzog. Falls sie mich eintreten hörte, hielt sie es offenbar nicht für nötig, darauf zu reagieren. Sie musste kurz zuvor im Freien gewesen sein, denn ihre Schultern waren mit dunklen Pünktchen übersät.
    »Verzeihung?«, sagte ich.
    Doch sie rührte sich nicht, starrte nur weiter hinaus und verfolgte die schwarzen Flocken, die sich drehten und wirbelten und wie Gänsedaunen zu Boden sanken.
    Ich versuchte es erneut. »Hallo?«
    Sie drehte sich um. Die kantigen, harten Konturen ihres Gesichts wirkten heute plötzlich gelöster; die Falten waren mit einem Mal geglättet, und in ihren Wangen hatten sich reizvolle Grübchen gebildet. Sie vermittelte den Eindruck schläfriger Zufriedenheit, postkoitaler Trägheit.
    »Ich bin auf der Suche nach meinem Großvater …«
    Sie lächelte. »Ich weiß, wen Sie suchen. Und Sie sind zu spät gekommen, er ist weg.«
    »Was meinen Sie mit ›er ist weg‹? Bis vor einer Stunde lag er im Koma, aus dem er, wie ihr

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