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Das Königshaus der Monster

Titel: Das Königshaus der Monster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Barnes
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Sie reden.«
    »Das Programm macht aus einem Menschen ein Gefäß. Es macht ihn zu einem Gefängnis auf zwei Beinen, einem lebenden Käfig, der das Monster umschließt. Wir brauchten einen Freiwilligen. Jemand Starken, der psychisch hart im Nehmen war. Gewisse Vorbereitungen waren vonnöten … Eingriffe im Gehirn … Und dann mussten wir diese Person zu einem Kraftpunkt bringen.«
    »Was meinen Sie damit? Kraftpunkt?«
    »Ein alter magischer Platz. Irgendwo. Aufgeladen mit psychischer Energie. Markiert durch bestimmte Symbole und magische Zeichen.«
    »Und dann?«
    »Wir mussten die Person ausbluten lassen, Henry. Wir mussten die Pulsadern aufschneiden und das Leben ausrinnen lassen. Bis sie ganz leer war. Ein hohles Gefäß.«
    »Das ist doch Mord!«
    »Nein, nicht wirklich Mord. Das war der Trick dabei.«
    »Und Sie haben da mitgemacht?«
    »Es gab keinen anderen Weg. Und raten Sie mal, auf wen die Wahl schließlich fiel?«
    Die Antwort lag auf der Hand. »Estella!«
    »Ganz klar.« Miss Morning hob kurz die Schultern. »Dedlock wollte niemand anderen. Also führten wir die Sache zu Ende.«
    »Und wo ist das passiert?«
    »Es ist nicht notwendig, dass Sie das erfahren. Außerdem bezweifle ich, dass Ihnen die Auskunft gefallen würde.« Sie blickte mich an, als sollte ich mir einen eigenen Reim auf ihre Worte machen können und selbst zu einem logischen Schluss kommen. Aber ich vermute, sie sah bloß Verständnislosigkeit auf meinem Gesicht.
    »Es war eine Nacht unerklärlicher Wunder. Als wir dieser Frau die Handgelenke aufschnitten, heilten sie auf der Stelle wieder zu.«
    »Was natürlich völlig unmöglich ist.«
    »Natürlich. Aber ich sah zu, wie es geschah. Die arme Estella – kein menschliches Wesen mehr. Im tiefen Mittelalter hätte es wohl geheißen, durch unser Tun hätten wir dieser Frau die Seele aus dem Leib geschnitten. Leviathan kam auf die Erde, und wir setzten ihn in einem Gefängnis aus Fleisch und Knochen gefangen. Wie den Geist in der Flasche. Wie eine Spinne in einem Marmeladenglas.« Bei der Erinnerung schien Miss Morning zu erschauern. »Wir machten aus einem Menschen eine Gefängniszelle. Darin, glaube ich, taten wir Unrecht. Aber so ist es nun einmal geschehen. Als wir alles zu Ende gebracht hatten, war Estella zur leeren Hülle einer Menschenfrau geworden. Die Belastung, die Anstrengung, Leviathan in sich zu beherbergen, beraubte sie eines Großteils ihrer motorischen Fähigkeiten, ihre Bewegungen wurden langsam, ihr Blick wirkte glasig, sie war geistesabwesend. Zwei Tage später, ich wachte gerade über unser sicheres Versteck in Mornington Crescent, spazierten die Präfekten durch die Tür und verkündeten mir, sich stellen zu wollen.«
    »Wie kam es dazu?«
    »Sie erklärten, ihr Gewissen wiege mittlerweile zu schwer, sodass sie bereit wären, sich zu ergeben.«
    »Und Sie, Miss Morning, haben ihnen natürlich nicht geglaubt.«
    »Natürlich nicht. Die beiden spielen in einer höheren Liga. Dieser Kreidekreis kann ihnen etwa in gleichem Maße Einhalt gebieten wie eine Papiertüte einem Ozelot.«
    Bei der Metapher runzelte ich ein wenig die Stirn.
    »Ihr Großvater quittierte den Dienst und nahm Estella mit. Er ging mit ihr nach Hause zu Ihrer Großmutter, und zwei Tage später verschwand Estella. Er wollte uns nie sagen, wo er sie versteckt hatte, ganz gleich, wie sehr man ihn auch drangsalierte. Und das Direktorium verfügt über Männer, die darauf spezialisiert sind, Druck auszuüben. Aber Ihr Großvater sprach nie über diese Sache. Kein einziges Mal. Daher werden Sie verstehen, warum es so unendlich wichtig ist, Estella zu finden. Sie ist nicht der Schlüssel bei diesem Krieg. Sie ist der Krieg.«
    Um die Wölbung eines Tonklumpens herum starrten Miss Morning und ich einander besorgt an.
    Da begann das Handy in meiner Hosentasche zu vibrieren. »Verzeihung«, sagte ich, als ich es herausholte – voller Angst, was für schlechte Nachrichten es mir jetzt wieder bringen würde.
    Es war Mister Dedlock. Unsere Konversation war kurz und fast völlig einseitig.
    »Was sagte er?«, fragte die alte Dame, als wir geendet hatten. »Spucken Sie’s aus!«
    »Dedlock erklärt sich mit den Bedingungen der Präfekten einverstanden.« Meine Stimme bebte ungeachtet meiner Bemühungen, ruhig zu bleiben. »Die beiden werden morgen verlegt.«
    Miss Morning sah mich trübsinnig an und wandte sich ab. »Dann, denke ich, ist es höchste Zeit für Sie, nach Hause zu gehen und die kurze Gnadenfrist zu

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