Das Kommando
Schuld wäre sie für den Rest ihres Lebens gezeichnet gewesen, man hätte sie gemieden und wie eine Aussätzige behandelt.
David dachte nicht daran, das zuzulassen. Als er sich vor Jahren auf diesen gefährlichen Weg begeben hatte, hatte er einen Vorsatz gefasst. Auch wenn er in keinem der palästinensischen Flüchtlingslager aufgewachsen war, hatte doch seine Mutter, ein in mancher Hinsicht ganz besonderer Mensch, dafür gesorgt, dass er sie kennen lernte. Sie hatte ihn in die verschiedenen Hospitäler mitgenommen, in denen sie arbeitete, damit er aus eigener Anschauung mitbekam, in welchem Elend die Palästinenser leben mussten. Die langen Autofahrten zu den Lagern hatte sie dazu genutzt, ihn über die politische Situation in den umkämpften Gebieten ins Bild zu setzen.
Die Lager der Palästinenser waren eine Brutstätte der Unzufriedenheit, der Korruption und des Antisemitismus. Man gab den Juden an allem die Schuld, ob zu Recht oder nicht und unabhängig davon, ob es um wichtige oder unwichtige Dinge ging. Stets wurden sie als die raffgierigen bösen Zionisten hingestellt, die dem palästinensischen Volk das Land gestohlen hatten. Die Propaganda war voller Heimtücke, aber Davids Mutter hatte sorgfältig darauf geachtet, ihrem einzigen Sohn den komplizierten Hintergrund des Konflikts zwischen Palästinensern und Juden darzulegen. Sie sah auf beiden Seiten ein gerütteltes Maß an Schuld.
Im Jahr 1948 hatten die Palästinenser tatsächlich für kurze Zeit einen eigenen Staat besessen. Statt sich aber mit dem zufrieden zu geben, was ihnen die Vereinten Nationen als rechtmäßiges Gebiet zugewiesen hatten, griffen sie mit Unterstützung der Streitkräfte von fünf arabischen Ländern den im Entstehen begriffenen Staat Israel an. Diese Entscheidung erwies sich als katastrophal. Israel schlug die arabischen Heere vernichtend, besetzte die für den Palästinenserstaat vorgesehenen Gebiete und deportierte den größten Teil der Bevölkerung, soweit sie das Land nicht ohnehin bereits verlassen hatte.
Davids Mutter hatte nicht unterlassen, darauf hinzuweisen, dass es von den Palästinensern nicht ganz aufrichtig war, wenn sie jammerten, Israel habe ihnen das Land gestohlen. Mehrfach hatte sie ihren Sohn gefragt:
»Falls wir 1948 den Krieg gewonnen hätten, glaubst du, dass wir den Juden ihr Land gelassen hätten?« Nie hatte sie seine Antwort abgewartet, von der er zutiefst überzeugt war: »Nein, die arabischen Streitkräfte hätten sie bis auf den letzten Mann niedergemacht.«
»Es stimmt, dass die Juden Rassisten sind«, hatte sie ihm eingebläut, »aber die Jordanier, Ägypter, Syrer, Iraker und Saudis sind noch viel schlimmer. Die Juden hassen uns, weil wir ihnen keinen Grund gegeben haben, uns zu mögen, aber welchen Grund haben unsere arabischen Brüder, so auf uns herabzusehen? Nicht den geringsten. Sie sind überzeugt, dass wir unter ihnen stehen. Sie haben den Hass auf die Juden geschürt, weil das ihren eigenen korrupten Regierungen in den Kram passt, und sie haben nicht das Geringste dagegen unternommen, dass unser Volk in diesen Lagern leben muss. Sie sehen uns als ihre Diener an, als nützliches Werkzeug. Auf diese Weise erreichen sie, dass sich der Zorn ihrer Untertanen nicht gegen sie selbst richtet, sondern gegen die bösen Juden.«
Diese Belehrungen seiner Mutter hatten David mit Misstrauen erfüllt, was jede Form von Propaganda angeht. Er dachte nicht daran, seinen Ehrgeiz mit Hass zu nähren. Nie würde er sich gegenüber der Wahrheit blind stellen, nie würde er ein gewissenloser Mörder sein. Genau deshalb hatte er Hamsa nicht einfach erschossen und das arme Mädchen seinem Schicksal überlassen. Er war etwas Einzigartiges: ein Pragmatiker, in dessen Brust ein fühlendes Herz schlug. Er würde die Kleine mitnehmen und ihrem Vater eine Erklärung liefern und etwas Geld geben.
Jetzt fesselte er die Hand und Fußgelenke des Generals an die Bettpfosten und warf einen prüfenden Blick auf ihn. Fast dreißig Jahre lang hatte dieser anderen Menschen Schmerzen zugefügt, sie zugrunde gerichtet und ihre Träume zerstört. Eine Kugel in den Kopf wäre viel zu gut für ihn. Er verdiente es, selbst die Angst zu erleben, die er so vielen eingejagt hatte. Diese Angst wollte David in seinen Augen sehen.
Mit der Rechten zog er das Messer aus der Lederscheide und schlug ihm mit der Linken ins Gesicht. Als er mit Daumen und Zeigefinger die Zunge des Mannes ergriff, dessen Kiefer lose herabhing und sie straff
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