Das kommt davon, wenn man verreist
würde...
Am nächsten Morgen frühstückte Friederike mit
Herrn und Frau Taschner. Sie hatte dabei den Eindruck, im Theater aus Versehen
die falsche Tür geöffnet und statt ins Parkett auf die Bühne geraten zu sein
als Eindringling in eine ebenso wohlerzogene wie bitterböse Ehekomödie. Die
beiden wechselten kein Wort und keinen Blick — sie spielten eine Pantomime mit
Nebengeräuschen.
Da war Herr Taschner, der nach Vorschrift seinen
Leinsamen einspeichelte, mit Spinnenfingern bunte Pillen aus einer
Silbermuschel fummelte, nacheinander verschluckte und mit lauwarmem Kamillentee
nachspülte. Dieses Schlucken war sehr hörbar. Seine junge, schöne, plumpe Frau
mußte es jeden Morgen von neuem ertragen. Sie wiederum, im satinglänzenden
Morgenrock mit weiten, hinderlichen Ärmeln, weil einstippfreudig, bestrich eine
Scheibe Toast nach der anderen mit Butter und Wurst, schnitt sie in exakte
kleine Würfel und fütterte damit ihre rechts und links von ihrem Stuhl
hochstehenden Hündchen. Jeden Bisseh begleitete sie dabei mit Ermahnungen und
Koseworten. Das wiederum mußte der alte Taschner jeden Morgen über sich ergehen
lassen.
Rieke hatte solchen Hunger, aber sie traute sich
nicht zu essen aus Sorge vor zusätzlichen Geräuschen in dieser geräuschvollen
Sprachlosigkeit.
Nachdem die Hündchen satt waren, trieben sie es
miteinander.
Frau Taschner schien das vor lauter Gewöhnung
nicht mehr zu stören.
Sie brachte ihren Mann zum Wagen und kehrte
heiter, sichtbar erlöst von seiner Gegenwart und der schicksalsschweren Sorge
um Pepes Zukunft, an den Eßtisch zurück.
So geriet Friederike völlig unverhofft in den
strahlenden Schein ihrer Liebenswürdigkeit, fühlte sich erwärmt — zum erstenmal
in diesem Hause.
»Haben Sie schon ein Programm für heute,
Federicia? Nein? Wollen Sie mich begleiten? Ich zeige Ihnen ein bißchen von der
Stadt. Inzwischen wird Pepe aufgestanden sein. Dann können Sie mit ihm zum
Flughafen fahren und Bobbo abholen. Weiß er schon, daß Sie hier sind? Nein?
Dann wird er sicher Augen machen!?
Sicher, dachte Rieke, es fragt sich nur, was für
welche!
Nach einstündigem Sightseeing landeten sie bei
der kreisrunden Pyramide von Cuicuilco.
Aus einem Rieke unerklärlichen Grunde bestand
Frau Taschner auf der Besteigung des rampenförmig angelegten Steingebildes.
Das konnte nicht gutgehen mit ihrem dünnen,
hochhackigen Schuhwerk.
Rieke nahm ihr zuerst die Handtasche ab, dann
zog sie an ihrem Arm, dann blieb sie zurück und stemmte den Rücken der Señora
aufwärts. Dann rutschten beide gleichzeitig auf den historischen Klamotten aus.
Dann waren sie endlich oben.
»Wir — be-hh-finden — auf dem — angeblich
äl-h-testen Bauwerk — hch — des — amerikanischen Kontinents«, keuchte Frau
Taschner.
Rieke horchte in sich hinein, erwartete
zumindest Ergriffenheit vor solcher Historie — empfand aber nichts. Schämte
sich dieserhalb gebührend.
Es war schon ein Armutszeugnis für eine
studierte Kunsthistorikerin mit dem Berufsziel Restauratorin. Aber
Monumentalbauten der Vorzeit vermochten in ihr nie mehr zu erregen als ein
unendliches, nachträgliches Mitleid mit den Menschen und Lasttieren, die sie
hatten errichten müssen. Außerdem wollte sie einmal keine Pyramiden
restaurieren, sondern Gebrauchsgegenstände aus den letzten Jahrhunderten.
Sie stand neben der Señora, von heißem Wind
umweht. Der dichte Smog schluckte die Fernsicht. Ein mit kleinen, blaßfarbenen
Würfeln dicht besiedeltes Stadtgebiet fiel ihr auf. »Was ist das?«
»Ein Slum«, Frau Taschner ruckte an ihrem
Mieder, das sich beim Aufstieg verschoben hatte. »Sie haben da nicht einmal
Wasser. Zur Olympiade sollte er abgerissen werden, aber seine Bewohner haben
sich gewehrt. Man ist dann zu einem Kompromiß gekommen. Sie mußten ihre Hütten
bunt anstreichen und durften bleiben.« Sie sah auf die Uhr. »Wir müssen zurück.
Bitte halten Sie mich, Federicia.«
Der Abstieg fand zum Teil auf beider
Hinterteilen statt.
Das war Riekes Erlebnis mit dem angeblich
ältesten Bauwerk des amerikanischen Kontinents.
Anschließend fuhren sie in die Zona Rosa, dem
Viertel der Banken, Juweliere, Boutiquen und teuren Restaurants.
Während Frau Taschner ihren Modesalon aufsuchte,
machte Rieke einen Schaufensterbummel. Sie kam nicht weit. Gegenüber einem
Schuhladen lag eine junge Indiofrau neben dem Umschlagtuch, das ihren Säugling
einhüllte, auf dem Straßenpflaster. Sie war beim Betteln eingeschlafen.
Sie
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