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Das Kopernikus-Syndrom

Das Kopernikus-Syndrom

Titel: Das Kopernikus-Syndrom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henri Loevenbruck
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hatte ein altes Hotel im Viertel la Nation im Auge, in der Nähe von Gérard Reynalds Wohnung. Ich war mir nicht sicher, ob ich den Mut dafür aufbringen würde, aber die Vorstellung, seine Wohnung zu durchsuchen, war mir kurz durch den Kopf gegangen.
    Als ich das Hotelzimmer betrat, konnte ich mich nicht mehr beherrschen. Ich warf mich aufs Bett, zündete mir eine Zigarette an und öffnete die Akte, die ich aus dem Auto des Anwalts mitgenommen hatte. Aufgeregt löste ich die beiden Gummis. Ich musste mit einer erneuten Enttäuschung fertig werden. Ich wurde wieder mal reingelegt. Der Ordner enthielt nichts als ein paar leere weiße Blätter.
    Dieser Abschaum von Anwalt hatte sich von Anfang an über mich lustig gemacht. Ich hatte mich reinlegen lassen und außerdem riskiert, geschnappt zu werden.
    Voller Wut wollte ich schon die Blätter zerreißen, als ich plötzlich wie gebannt auf den Fernseher über meinem Bett starrte. Ich richtete mich auf, völlig benommen. Ich glaubte, meinen Augen nicht zu trauen. Es war, als hätte man mir einen Faustschlag in die Magengrube versetzt.
    In den 20-Uhr-Nachrichten erschien mein Bild.
60.
    Moleskin-Notizbuch,
Anmerkung Nr. 181: die Spiegel
    Ich würde gern verstehen, warum Spiegel solche Unruhe und solches Unbehagen bei mir auslösen. Sie und ich haben eine ungesunde Beziehung zueinander. Ich weiß, dass es eine versteckte Ursache, einen tieferen Grund dafür gibt, deshalb suche und stöbere ich weiter. Wie immer habe ich Lexika und Sachbücher durchforstet. Dabei weiß ich nicht einmal, ob die Antwort zwischen ihren Zeilen steht. Man sagt mir ja nie etwas.
    Ein Spiegel ist eine Fläche, die so lange blank geputzt wird, bis sie Bilder reflektiert. Daraus könnte man schließen, dass man sauber sein muss, um zu reflektieren.
    Das dazugehörige Verb lautet reflektieren, denn der Spiegel reflektiert – was auch ich manchmal versuche.
    Bevor ich anfange, metaphysische Reflexionen anzustellen – o was für ein garstiges Wort –, wollte ich erst einmal verstehen, wie Spiegel hergestellt werden, um nicht dumm zu sterben, wobei ich gar nicht sterben will.
    Anfangs bestanden Spiegel aus einfachen metallischen Flächen, die so lange poliert wurden, bis sie Bilder reflektieren konnten. Heute bestehen die Spiegel, die wir in unseren Häusern haben, aus mehr oder weniger dicken Glasscheiben, auf die eine reflektierende Schicht aus Aluminium oder Silber aufgebracht wird und dann eine weitere Schicht aus Kupfer oder Blei, die man Spiegelbelag nennt (und die früher aus Zinn war). Das Glas dient als Auflage und Schutz für die reflektierende Schicht, und der Spiegelbelag, die letzte Schicht also, macht den Spiegel vollkommen undurchsichtig. Durch Spiegel ohne Kupfer- oder Bleischicht kann man hindurchsehen, weshalb man sie als Spione benutzen kann; man nennt sie Einwegspiegel.
    Darum bin ich jedes Mal beim Anblick eines Spiegels misstrauisch, denn er gibt Anlass zu Fragen. Das ist legitim.
    Der Spiegel kann vermutlich ein genaues Abbild des Menschen reflektieren, der sich darin betrachtet. Ich sage bewusst vermutlich. Auf den ersten Blick sieht man sich so, wie man ist, vor allem seine Makel. Darum wird der Spiegel oft mit Wahrheit und Erkenntnis in Zusammenhang gebracht wie zum Beispiel Schneewittchens Zauberspiegel. Wenn die Grundlage der Erkenntnis das ›Erkenne dich selbst‹ ist, diese Inschrift über dem Eingang zum Tempel von Delphi, die Sokrates zugeschrieben wird, dann ist der Spiegel vielleicht das erste Hilfsmittel für die Erkenntnis. Falls er wirklich dabei hilft, sich selbst zu erkennen, so wie man wirklich ist … Ich persönlich habe da so meine Zweifel.
    Dann gab es diesen Alchimisten Fulcanelli , der sehr viel weiter ging. Ich glaube, die Neigung, ein bisschen zu weit zu gehen, ist unter Alchimisten extrem verbreitet. Fulcanelli meint, man könne die wahre Natur überhaupt nur in einem Spiegel sehen, weil sie sich dem Suchenden niemals zeigt … Dazu gehören solche Legenden wie die von der Medusa oder dem Basilisken, den mythischen Kreaturen, denen man nicht in die Augen sehen durfte, weil man sonst zu Stein erstarrte. Aber im Spiegel konnte man sie betrachten.
    Alles in allem wäre der Spiegel demzufolge eine Art offene Tür zu etwas, das man nicht direkt mit den Augen sieht … Es tut mir leid, aber hier melde ich noch größere Zweifel an.
    Eines ist jedoch sicher: Wenn der Spiegel ein Bild der Welt reflektiert, ist er nicht die Welt. Er ist nicht ich.
    Dieser

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