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Das Kopernikus-Syndrom

Das Kopernikus-Syndrom

Titel: Das Kopernikus-Syndrom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henri Loevenbruck
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Typ im Spiegel ist nicht ich. Man möge mir nicht das Gegenteil einreden.
    Wenn mich etwas an einem Spiegel irritiert, dann ist es nicht seine Vorderseite, sondern seine Rückseite. Sein verstecktes Gesicht, das absolute Dunkel, das Unbekannte.
    Es fällt mir auch schwer, mich in einem Spiegel zu betrachten, ohne zu wissen, was dahintersteckt.
    Vor allem in phantastischen Erzählungen von ›der anderen Seite des Spiegels‹, und nicht nur in denen von Lewis Carroll, wird eine Parallelwelt heraufbeschworen, in die man fliehen kann, von der man aber nichts weiß …
    Der Spiegel führt mich zu meinen Fragen nach der Illusion … Was für die Hindus Mâyâ ist, ist für uns vielleicht der Spiegel, in dem wir eine Welt wahrnehmen, die nicht real ist …
    Immerhin habe ich in der Psychoanalyse so etwas wie eine Antwort gefunden. Zenati, Psychologin, I. Stock links, wäre stolz auf mich. Ich habe nachgeschaut. Nach Lacan ist das Spiegelstadium eine Phase in der Konstitution des menschlichen Wesens. Es bezeichnet einen grundlegenden Punkt in der Entwicklung der Vorstellungen vom eigenen Ich. Nach Lacan kann man ›das Spiegelstadium als eine Identifikation im vollen Sinne‹ verstehen, ›den die Psychoanalyse diesem Terminus gibt: als eine beim Subjekt durch die Aufnahme eines Bildes ausgelöste Verwandlung‹. Vor diesem Stadium soll das Kind in Verwirrung über sich selbst und die anderen leben. Erst die Begegnung mit seinem Spiegelbild ermöglicht ihm, seinen eigenen Körper als eigenständiges Wesen zu erfahren. Dabei überlagern sich drei Vorgänge: Zunächst lebt das Kind in der Verwirrung über sich selbst und die anderen. Vor dem Spiegel stehend begreift es dann, dass es im Spiegel ein Bild sieht, beziehungsweise dass dieser andere, den es sieht, nicht wirklich ist. In einem dritten, ausschlaggebenden Schritt erkennt das Kind das Spiegelbild als Bild von sich. Ganz offensichtlich ist das ein entscheidender Augenblick.
    Ich frage mich, ob ich das Spiegelstadium je überwunden habe.
61.
    Ich erlitt einen solchen Schock, dass es eine ganze Weile dauerte, bis ich wieder bei Sinnen war und gerade noch das Ende des Berichts des Journalisten mitbekam. Ich erkannte wiederholt meinen Namen ›Vigo Ravel‹ und registrierte, dass ich verdächtigt wurde, an dem Attentat vom 8. August beteiligt gewesen zu sein. Ich galt offiziell als vermutlich wichtigster Komplize von Gérard Reynald. Die Polizei schrieb eine internationale Fahndung aus. Mein Foto sollte in der ganzen Welt verbreitet werden.
    Ich glaube, ich hatte noch nie solche Angst – und solche Wut. Im Grunde konnte meiner bereits reichlich übersteigerten Paranoia nichts Schlimmeres passieren: zu wissen, dass mein Foto auf Millionen von Bildschirmen erschien, dass das Bild in allen Polizeistationen, an allen Grenzen hängen würde … Und ich hatte keine Möglichkeit, mich zu verteidigen. Ich war allein, so allein wie noch nie. Ich fühlte mich als Opfer einer entsetzlichen Ungerechtigkeit, aus der ich keinen Ausweg sah. Ich hätte gern meine Unschuld hinausgeschrien, meine Auflehnung, aber ich konnte nichts tun. Was war meine Schizophrenie gegen die ganze Welt?
    In diesem Moment merkte ich, wie mir schwindelig wurde und mein Herz ungewöhnlich schnell schlug. Ich kannte diese kleinen Warnungen nur zu gut. Mein Blick trübte sich wieder einmal. Nein. Ich wollte der Angst nicht nachgeben. Ich musste mich beruhigen, nachdenken, verstehen und dann eine Lösung finden. Den Ausweg finden.
    Konzentriere dich. Du bist unschuldig. Es gibt die Wahrheit, sie ist irgendwo. Finde sie! Das ist der einzige Ausweg. Der einzig mögliche Ausweg!
    Irgendjemand hatte mich verraten. Jeder konnte es gewesen sein. Zenati, dieser Abschaum von Anwalt, sogar Agnès oder am Ende sogar die Hacker der Gruppe SpHiNx! Egal wer. Er war ein Handlanger derer, die diese unglaubliche Intrige angezettelt hatten, der ich zum Opfer gefallen war, Doktor Guillaume, de Telême, meine falschen Eltern …
    Nach langen Minuten der Ratlosigkeit erhob ich mich und ging mit geballten Fäusten in dem Hotelzimmer auf und ab. Was sollte ich tun? Mich ergeben? Ganz sicher nicht! Fliehen? Das war wohl die beste Lösung, leider. Aber am Ende würde man mich trotzdem fassen. Ich konnte doch nicht ein Leben lang davonlaufen. Und wenn mich der Mann an der Rezeption erkannt hatte? Vielleicht war ich sogar hier schon in Gefahr, jetzt, sofort!
    Ohne Zögern eilte ich ins Badezimmer, holte meinen Kulturbeutel aus dem

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