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Das Kopernikus-Syndrom

Das Kopernikus-Syndrom

Titel: Das Kopernikus-Syndrom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henri Loevenbruck
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Rucksack und schmierte mir Rasierschaum auf den Kopf. Mit festem geradem Blick betrachtete ich mein Spiegelbild. Dann zog ich mit zitternder Hand den Rasierer vom Nacken bis zur Stirn, langsam und methodisch. Ich stellte mich ziemlich ungeschickt an und schnitt mich mehrere Male. Meine Kopfhaut war schnell gereizt, aber nach einigen Minuten war ich endlich kahl. Ich spülte meinen Schädel ab und musterte mich erneut. Ich erkannte mich selbst nicht wieder. Perfekt, das war es. Ich hatte den Kopf eines anderen. Den Kopf eines Marseiller Torhüters.
    Ich suchte rasch meine Sachen zusammen, vergewisserte mich, dass ich nichts vergessen hatte, und verließ das Zimmer. Ich lief schnell die Hoteltreppe hinunter. Unten angekommen, warf ich einen Blick zur Rezeption. Niemand. Der Weg war frei. Ich holte tief Luft, ging zur Tür und trat auf die Straße hinaus.
    Es begann dunkel zu werden. Die Dämmerung bedeutete für mich etwas Tröstliches. Ich sollte mich daran gewöhnen, ein Nachttier zu werden. Ich fragte mich, ob ich jemals wieder am helllichten Tag würde ausgehen können. Wie lange musste ich noch in der Angst leben, entdeckt und erkannt zu werden? Wenn es wirklich einen Weg gab, meine Unschuld zu beweisen, musste ich ihn schnell finden. Ich konnte nicht für alle Ewigkeit vor der Polizei davonlaufen. Aus Erschöpfung oder Angst würde ich irgendwann einen Fehler machen. So endet das immer.
    Mit klopfendem Herzen und gesenktem Kopf ging ich die Avenue de Bouvines auf der anderen Seite der Place de la Nation entlang. Meine Hände zitterten, und jedes Mal, wenn mir jemand entgegenkam, wandte ich den Blick ab aus Angst, erkannt zu werden. Ein entsetzliches Gefühl. Als sei jede Sekunde eine neue Galgenfrist. Ich musste ständig daran denken, dass man mich plötzlich, mitten auf der Straße, erkennen könnte und dass ich mich dann nirgendwo verstecken konnte, dass ich keinen Unterschlupf finden würde.
    Bald stand ich vor dem Gebäude, in dem Gérard Reynald wohnte. Es war vermutlich das Idiotischste, was ich tun konnte, während die Polizei mich suchte und die Fahndung im ganzen Land auf Hochtouren lief. Es gab sicher keinen besseren Weg, dem Feind in die Arme zu laufen. Aber ich wusste nicht mehr, was ich tun, wohin ich gehen und wie ich diesen Alptraum beenden sollte. Ich war allein und zu allem bereit. Wenn man mich verhaften sollte, hatte ich doch zumindest etwas versucht.
    Dieser Gérard Reynald war eine meiner wenigen echten Spuren. Von ihm würde ich bestimmt einiges erfahren. Und nach allem, was geschehen war, hatte ich nicht mehr viel zu verlieren. Ich hatte meine Vergangenheit verloren, meinen Namen verloren, zehn Jahre meines Lebens verloren, Agnès verloren … Was war mir Kostbares geblieben, dessen Verlust mich das Gefängnis fürchten ließ? Nur die Wahrheit, die ich noch nicht kannte, war mir wirklich etwas wert.
    Ich beschloss, mein Glück zu versuchen. Ich ging ein paar Schritte weiter und bemerkte zwei Polizeiautos vor dem Gebäude. Nichts zu machen. Ich war schließlich kein Selbstmörder. Reynalds Wohnung wurde überwacht. Ich hätte es mir denken können.
    Ich machte sofort kehrt. Ich musste etwas anderes finden, schleunigst. Ich konnte nicht so durch die Stadt irren. Ich war verzweifelt bemüht, etwas zu tun, um weiterzukommen. Von nichts kommt nichts.
    Da hatte ich eine Idee. Ich holte mein Moleskin-Notizbuch heraus und suchte die Adresse dieses widerlichen Monsieur Blenod. Er hatte mich gelinkt, er hatte mir die geringste Information verweigert, also musste ich sie mir selbst besorgen. Ich hatte nicht übel Lust, bei ihm einzubrechen. Seine Büroräume befanden sich im 7. Arrondissement.
62.
    Aus Angst, erkannt zu werden, verkroch ich mich im Bus in eine der hinteren Sitzreihen. Schließlich stand ich kurz vor 22 Uhr vor dem Büro des Anwalts in der zweiten Etage eines alten Pariser Mietshauses. Ich zögerte einen Augenblick und vergewisserte mich, dass sich außer mir niemand im Treppenhaus befand. Dann klingelte ich. Nichts. Ich klingelte noch einmal. Wieder nichts. Das Büro war leer.
    Was dann geschah, überstieg mein Fassungsvermögen oder zumindest mein direktes Verständnis. Ohne nachzudenken, gehorchte ich ganz mechanisch einem unerklärlichen Reflex. Vielleicht vom Gefühl der Not und der Panik getrieben, holte ich mein Schweizer Taschenmesser aus dem Rucksack und versuchte, das Schloss aufzubrechen.
    Ich führte die Bewegungen mit einer so einzigartigen Genauigkeit aus, als hätte ich

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