Das Kopernikus-Syndrom
das bereits tausendmal getan, als sagte ich plötzlich die auswendig gelernten Strophen eines alten vergessenen Gedichts auf. Ich hatte dasselbe Gefühl wie an dem Tag, an dem ich das Auto meines Chefs fuhr: das Gefühl, eine Technik perfekt zu beherrschen, die mir eigentlich unbekannt war.
Ich führte die dünnste Klinge des Schweizer Taschenmessers in das Schloss ein. Du ziehst sie langsam zurück, um den Druck der Federn zu prüfen. Dann drehst du das Schloss langsam. Führe die Spitze wieder hinein; du ziehst sie zu dir zurück und drückst dabei leicht auf die Mitnehmerbolzen. Das tust du immer wieder und erhöhst den kreisenden Druck jedes Mal, bis die Kolben in die richtige Position kommen. Geschafft. Die Bolzen stehen fast alle richtig. Jetzt rüttle am Schloss. Du hast es geschafft.
Die Tür öffnete sich. Ich richtete mich auf und sah erstaunt auf meine Hände. Wie hatte ich das geschafft? Wo hatte ich das gelernt? War ich in dieser Vergangenheit, von der ich nichts mehr wusste, Einbrecher gewesen? Ich schüttelte den Kopf, amüsiert und verdutzt zugleich.
Ich vergewisserte mich, dass immer noch niemand im Treppenhaus war, betrat lautlos das Büro des Rechtsanwalts und schloss die Tür hinter mir.
Und wenn er eine Alarmanlage hatte? Ich untersuchte die Wände, die Zimmerdecken, alle Winkel nach Bewegungsmeldern. Nichts. Erstaunlich. Sie sind doch nicht so schlau, Herr Anwalt. Ich ging weiter in den Warteraum und versuchte, mich zu orientieren. Es gab mehrere Büroräume, doch einer war größer und schöner als die anderen. Das musste sein Büro sein, und ich ging hinein.
Ich schaute mich rasch um, nahm Einbauschränke, Aktenschränke, das ganze Büro unter die Lupe. Überall lagen Akten. Ich stöhnte. Wie sollte ich mich darin zurechtfinden?
Nur Mut. Hier befand sich mit Sicherheit ein kleines Stück Wahrheit. Ich fing mit dem ersten Wandschrank an. Die Akten standen alphabetisch geordnet. Ich suchte den Buchstaben R wie Reynald. Nichts. Ich versuchte es mit S wie SEAM. Auch nichts. Ich öffnete einen großen Schrank hinter dem Schreibtisch. Keine geordnete Ablage. Die Akten waren ohne erkennbares System übereinandergestapelt. Unmöglich, alle zu prüfen. Ich fluchte, drehte mich um und warf einen schnellen Blick auf den Schreibtisch. Auf der rechten Seite lagen mehrere Ordner. Ich hob einen nach dem anderen hoch. Keiner schien etwas mit dem zu tun zu haben, was ich suchte. Auf der linken Seite stand der Computerbildschirm auf Standby. Ich zog das Brett mit der Tastatur unter der Schreibplatte hervor und drückte auf eine Taste. Der Bildschirm erhellte sich langsam. Bingo. Ein Ordner auf dem Desktop hieß Akte-G-Reynald-SEAM. Ich klickte das Verzeichnis an, und mehrere Dateien erschienen. Einige Dateien betrafen Zeitungsausschnitte, andere medizinische Gutachten, aber eine Datei weckte meine besondere Aufmerksamkeit: Sie trug die Bezeichnung Persönlichkeitsmerkmale. Ich öffnete sie. Im selben Augenblick sah ich aus dem Augenwinkel ein Lämpchen in der linken Ecke des Zimmers direkt über der Tür rot aufleuchten und blinken. Ich runzelte die Stirn. Als ich aufstand, erkannte ich einen kleinen grauen Kasten. Eine Alarmanlage! Hatte sie mich ausfindig gemacht? Hatte sie schon bei meinem Eintritt geblinkt? Ich spürte, wie mein Puls raste. Ich konnte nicht bleiben und darauf warten, dass sie mich holten. Ich musste mich aus dem Staub machen. Aber nicht ohne diese Datei! Wieder sah ich auf den Bildschirm. Sie hatte nur fünf Seiten und enthielt die vom Anwalt zusammengetragenen biographischen Informationen zu Gérard Reynald. Ich hatte keine Zeit, alles zu lesen. Ich entschied mich, die Datei auszudrucken und dann schnellstens zu verschwinden. Der Drucker leuchtete auf und brauchte lange Sekunden, um warmzulaufen. Ich wurde ungeduldig und blickte ständig zum Eingang. Endlich fiel ein Blatt nach dem anderen in den Auffangkorb. Plötzlich hörte ich auf der anderen Seite des Büros, dass sich ein Schlüssel im Schloss drehte. Mein Herzschlag setzte aus. Ich würde auf frischer Tat ertappt werden! Ich stürzte mich auf das Stromkabel des Druckers und zog es aus der Wand. Das Gerät ging sofort aus. Ich nahm die drei Seiten, die es ausgespuckt hatte, warf sie in meinen Rucksack und versteckte mich hinter der ersten Glastür.
»Ist da jemand?«
Das war nicht die Stimme von Anwalt Blenod. Etwa schon die Polizei? Nein, das konnte nicht sein, nicht so schnell. Ich hörte, wie sich die Schritte dem Büro
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