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Das Kopernikus-Syndrom

Das Kopernikus-Syndrom

Titel: Das Kopernikus-Syndrom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henri Loevenbruck
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blieb in Paris, freute mich, allein in der Wohnung zu sein, eingeschlossen in die gewohnte Einsamkeit. Wenn ich in der Woche abends nach Hause kam, hatten sie bereits gegessen, und meine Mutter hatte mir in der Küche etwas hingestellt. Ich nahm mein Abendessen allein auf dem kleinen Sperrholztisch ein und hörte leise den Fernseher aus ihrem Zimmer. Manchmal hörte ich auch, wie sie sich stritten. Unwillkürlich kam mir in den Sinn, dass ich meist der Grund dafür sein musste, denn ich hörte immer wieder meinen Namen. Ein paar Minuten später schrie mein Vater laut, und der Streit war vorbei. Er schien ein durchschlagendes Argument zu kennen, das jedes Mal den Streit beendete. Und meine Mutter gab nach. Häufig ging ich danach ins Wohnzimmer zu ihr. Wir tauschten Banalitäten aus, fast verschämt. Sie wirkte bedrückt, aber ich schaffte es nicht, Mitleid mit ihr zu haben. Ich bedachte sie mit einem leeren Lächeln, zog mich in mein Zimmer zurück und verbarrikadierte mich dort bis zum nächsten Tag. Ich las Bücher, Berge von Büchern, und machte mir Notizen, jede Menge Notizen. Dann schlief ich ein und versuchte, nicht zu denken. Diese Isolierung war für mich das beste Mittel, die Stimmen in meinem Kopf zu vergessen. Es war schon ein wenig trübsinnig, dessen war ich mir bewusst, aber zumindest war es nicht bedrückend. Obwohl ich in meinem tiefsten Inneren von etwas anderem träumte, von einem anderen Leben, hatte ich mich schließlich daran gewöhnt, mich mit diesem brüchigen Frieden abzufinden. Und die Nebenwirkungen meiner Neuroleptika regten mich nicht unbedingt dazu an, etwas anderes zu tun. Meine Eltern im Übrigen auch nicht.
    Manchmal sagte ich mir, dass sie genauso lethargisch waren wie ich. Sie erinnerten mich an die Rentnerkarikaturen aus der Werbung für die Sterbegeldversicherungen. Zumindest ihr künstliches Lächeln erinnerte mich daran.
    Sie waren beide weit über sechzig und hatten ihr Leben lang in einem Ministerium gearbeitet – das zumindest wusste ich. Aber ich wusste nicht, um welches Ministerium es sich handelte. Sie sagten immer ›das Ministerium‹. Und meine Erinnerungen reichten nicht so weit. Soweit ich mich erinnern konnte, waren sie immer schon im Ruhestand.
    In gewisser Hinsicht war mir das alles gar nicht so unlieb. Schon oft fragte ich mich, was ich getan hätte, wenn ich Eltern gehabt hätte, die präsenter, gar liebevoller gewesen wären. Ich frage mich, ob mich das nicht erdrückt hätte. Wenn nicht noch Schlimmeres.
    Trotzdem beschloss ich in diesem Moment, dass ich sie benachrichtigen musste. Ihnen sagen musste, dass ich am Leben war. Das wenigstens war ich ihnen schuldig.
    Ich griff zum Telefon und wählte die Nummer des Hauses in Südfrankreich. Niemand hob ab. Ich ließ es lange läuten, für den Fall, dass sie sich nicht in der Nähe des Apparats aufhielten. Aber nein. Nichts. Sie waren vermutlich ausgegangen. Mit einem Seufzer legte ich den Hörer auf.
    Einen Moment lang fragte ich mich, ob das alles wirklich war. Langsam fuhr ich mit der Hand über meine Wange. Ich spürte meine harten Stoppeln. War das wirklich meine Wange? Ich strich über meinen Leib, der durch die Neuroleptika aufgeschwemmt war. Gehörte er wirklich mir? War ich dieser hochgewachsene Kerl mit den schwarzen Haaren, etwas kräftig, mit breiten Schultern und ungelenken Gesten? Befand ich mich wirklich hier in einer Wohnung in der Rue Miromesnil? Und waren meine Eltern wirklich an der Côte d'Azur? War es jetzt August? Hatte das Attentat tatsächlich stattgefunden? Hatte ich es überlebt? Und zwar aufgrund der Stimmen in meinem Kopf? Diese Stimmen in meinem Kopf, Kopf, Kopf.
    Und wieder kam mir die einzige wirkliche Frage in den Sinn. Weitschweifig. Obsessiv. Unerbittlich. Lästig.
    Bin ich schizophren, ja oder nein?
    Ich fing leise an zu weinen. Ein verlorenes, kindliches Weinen. Es gelang mir nicht mehr, die Gültigkeit meiner Orientierungspunkte zu beurteilen, mich an der Realität festzuhalten. Egal an welcher Realität. Und das machte mich traurig, hilflos. Ich verspürte das Verlangen, mich in mein Inneres zu flüchten, hinter den Schleier meiner Tränen, aber ich war mir nicht mehr sicher, dass ich dort allein sein würde, in Sicherheit. Es gab immer diese Stimmen, die mich quälen konnten, zu jeder Zeit. Ich erinnerte mich an die Worte von Doktor Guillaume, wie an einen alten Schlager auf einem defekten Tonbandgerät. »Vigo, Sie leiden an einer Verwirrung Ihrer Gedanken und Ihrer

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