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Das Kopernikus-Syndrom

Das Kopernikus-Syndrom

Titel: Das Kopernikus-Syndrom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henri Loevenbruck
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Ausgeburt meines Gehirns.
    Und doch … Ich wusste einfach nicht mehr, woran ich war. Ich wusste nicht mehr, was ich glauben sollte. Seit über zehn Jahren versicherte mir mein Psychiater, dass ich nicht die Gedanken anderer Menschen in meinem Kopf hörte, sondern Halluzinationen hatte, die mein eigenes Gehirn erzeugte. Aber … Jetzt fing ich an, daran zu zweifeln. Armer Kerl. Das konnte keine Halluzination sein, es war derart realistisch. Das konnten nur die Gedanken des Chauffeurs sein, und nichts anderes.
    Im selben Moment kamen mir die Worte des Attentats wieder in Erinnerung. »Transkranielle Augen, 88, die Zeit des zweiten Boten ist gekommen. Heute die Zauberlehrlinge im Turm, morgen unsere mörderischen Väter im Bauch, unter 6,3.«
    Ich fröstelte.
    »Können Sie bitte das Radio anmachen?«, fragte ich, ohne aufzublicken.
    »Wollen Sie die Nachrichten hören?«
    »Nein, nur Musik. Ziemlich laut, wenn es Ihnen nichts ausmacht.«
    Er schaltete das Radio ein. Die einlullende Melodie einer orientalischen Musik erfüllte sofort das Auto. Ich pfiff mit. Diese Methode hatte ich vor langer Zeit herausgefunden, um nicht von meinen Stimmen gestört zu werden. Laute Musik hören. Ich entspannte mich ein wenig und blickte zum blauen Sommerhimmel empor. Ich liebte Paris im August. Auf den Straßen waren weniger Menschen, und in meinem Kopf ertönten weniger Stimmen. Das Licht verlieh den Gebäuden ein neues Gesicht. Die Fenster waren in allen Stockwerken geöffnet. Ich fand das angenehm, einladend.
    »Tut mir leid, Monsieur, man kann nicht näher ranfahren als bis hierher«, verkündete schließlich der Taxifahrer und hielt vor einem Trottoir, an der Grenze zwischen Neuilly und La Défense. »Die Boulevards im Umkreis sind abgeriegelt. Sie werden zu Fuß gehen müssen.«
    Vor uns blockierten Barrieren die Straße und verursachten einen riesigen Stau.
    »In Ordnung. Danke. Was bekommen Sie?«
    Er wandte sich mit seinem liebenswürdigen Lächeln zu mir um.
    »Nichts«, erwiderte er und tätschelte meine Hand. »Ich wünsche Ihnen alles Gute mit Ihrer Familie.«
    Ich nickte und versuchte dankbar auszusehen. Ich bin nicht sehr begabt für liebenswürdige Gesten. Ich wollte mich würdig bei ihm bedanken. Aber ich konnte es nicht. Ein wenig Liebe zu geben oder zu empfangen ist ein Beruf. Ich hatte dafür nicht die richtige Ausbildung erhalten.
    Ich stieg aus dem Taxi und ging auf den Rauch zu, der sich immer noch über dem Geschäftsviertel erhob. Ich überquerte mehrere Straßen und lief durch das Labyrinth des Untergeschosses. Früher hatte ich mich x-mal in diesem Komplex aus Glas und Beton verirrt. Der Architekt, der die Verkehrswege in La Défense entworfen hatte, besaß vermutlich einen seltsamen Sinn für Humor. Bald stand ich vor einer neuen Barriere, die von der Polizei errichtet worden war: Rotweiße Plastikbänder riegelten das Gelände ab. Ich zögerte, dann ging ich um diese symbolische Sperre herum. Ein Polizist mit Funkgerät in der Hand stürzte sofort auf mich zu.
    »Sie können hier nicht vorbei«, rief er mir verärgert zu.
    »Aber ich muss dort hinein«, beharrte ich. »Dort ist mein Arzt, und ich war auch dort …«
    Der Blick des Bullen veränderte sich ruckartig. Er bemerkte meine Kleidung, meine Wunden, die Blutspuren. In seinen Augen machte es klick, als ob er plötzlich begriff, dass ich nicht nur ein Gaffer, sondern ein Opfer des Attentats war. Ich war vermutlich ziemlich fahl, mit dunklen Ringen unter den Augen. Ich sah bestimmt entsetzlich aus.
    »Aber warum hat sich der Notdienst nicht um Sie gekümmert? Was machen Sie hier?«
    »Ich … ich weiß nicht genau, was mit mir geschehen ist. Ich hatte Angst und bin einfach losgerannt. Aber ich möchte die Listen sehen, ich möchte sehen, ob mein Arzt …«
    Der Polizist zögerte, dann befestigte er sein Funkgerät am Gürtel. »Gut, kommen Sie, Monsieur. Sie stehen unter Schock, Sie hätten nicht einfach weglaufen dürfen … Ich werde Sie zum ärztlichen und psychologischen Notdienst bringen. Folgen Sie mir.«
    Er reichte mir die Hand und legte den Arm um meine Schulter, als ob ich ein Schwerverletzter wäre. Dann geleitete er mich durch das Labyrinth von La Défense. Ich sagte kein Wort. Je näher wir dem einstigen Turm kamen, desto dichter waren der Boden und die Mauern mit grauem Staub bedeckt, und die Gesichter der Feuerwehrleute, der Polizisten oder Zivilisten, denen wir begegneten, wurden immer ernster. Wir passierten mehrere

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