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Das Kopernikus-Syndrom

Das Kopernikus-Syndrom

Titel: Das Kopernikus-Syndrom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henri Loevenbruck
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Wahrnehmung. Aber achten Sie darauf, dass Sie sich nicht in sich zurückziehen. Das ist häufig bei Menschen zu beobachten, die mit den gleichen Problemen leben wie Sie. Die Beeinträchtigung Ihrer Berührung mit der Wirklichkeit soll Sie nicht dazu treiben, sich aus der Wirklichkeit auszuschließen …«
    Sich nicht aus der Wirklichkeit ausschließen. Wie geht das?
    Ich wischte mir die Tränen ab und widmete mich erneut dem Fernsehen. War das die Wirklichkeit? Was sich da auf dem kleinen Bildschirm abspielte, die Stimmen und die Bilder, die er von sich gab?
    Und warum erwähnten diese verdammten Journalisten nicht die Arztpraxis in der obersten Etage? Das war sehr seltsam. Eine so große Praxis, die nach Aussagen meiner Eltern einen so guten Ruf hatte. Da waren viele Ärzte, ich habe zig gesehen. Und jede Menge Analyseapparate. Das hätte die Journalisten doch interessieren müssen. Und es war genauso erstaunlich, dass Doktor Guillaume mit keinem Wort erwähnt wurde. Der beste Psychiater von ganz Paris.
    Stattdessen filmten sie die armen Leute, die im zerstörten La Défense herumliefen. Die einen, die voller Verzweiflung den Feuerwehrleuten und den Polizisten die Fotos eines Verstorbenen unter die Nase hielten, die anderen, die sich vor den ersten offiziellen Listen der Opfer drängten, die in der Nähe des ärztlichen Notfallpostens aufgehängt worden waren.
    Plötzlich hatte ich die Idee, zum Turm zurückzukehren. Vielleicht stand Doktor Guillaumes Name auf der Liste, oder vielleicht hatte er sogar überlebt. Warum denn nicht? Wenn er an jenem Morgen zu spät gekommen war, konnte er dem Attentat entgangen sein.
    Ich musste es wissen. Gewiss, es war nicht vernünftig, die Chancen waren gering, aber ich musste es wissen. Doktor Guillaume war der einzige Mensch, der mir helfen konnte. Er war meine einzige Verbindung zur Realität. Der Einzige, der mir sagen konnte, ob ich schizophren war oder nicht. Ich musste ihn sehen. Wenn er noch am Leben war, konnte ich ihm erzählen, wie mich die Stimmen vor dem Attentat gerettet hatten. Er würde mir glauben. Oder er würde es mir erklären. Er würde es wissen.
    Ohne weiter nachzudenken, erhob ich mich und verließ die Wohnung.
13.
    Dieses Mal nahm ich ein Taxi.
    »Was ist denn mit Ihnen geschehen?«
    Plötzlich wurde mir bewusst, dass ich schrecklich aussehen musste. »Ich war bei dem Attentat dabei.«
    Der Chauffeur kniff die Augen zusammen und musterte meine Kleidung, die voller Blut und Schmutz war.
    »Mein Gott«, stieß er hervor. »Sie sind ja verletzt …«
    »Nichts Schlimmes.«
    »Und Sie sind nicht in die Klinik gegangen?«
    »Nein. Ich muss dorthin zurückkehren.«
    »Zur Défense?«
    »Ja.«
    »Aber Monsieur, dort ist alles abgesperrt.«
    »Ich muss hin. Ich habe … meine Familie war dort«, log ich. »Ich möchte dorthin zurück. Bitte, fahren Sie mich so nah wie möglich ran.«
    Der Chauffeur zögerte kurz und willigte dann ein. Er hatte wohl Mitleid mit mir. Vermutlich sagte er sich, dass ich unter Schock stand, und damit hatte er nicht einmal unrecht.
    Er kam aus dem Maghreb, war um die fünfzig. Seine Augen lächelten freundlich, verrieten seine Großzügigkeit. Die Falten um die Augen wirkten vertrauenerweckend.
    Er fuhr los und lenkte den Wagen in Richtung Porte Maillot. Von Zeit zu Zeit warf er mir durch den Rückspiegel einen Blick zu. In dem kleinen rechteckigen Spiegel sah ich seine unruhigen Augen. Ich schwieg, ich hatte Angst zu reden. Die Hand vor dem Mund, den Kopf gegen die Scheibe gelehnt, beobachtete ich die Menschen in ihren Autos, die Menschen auf den Trottoirs, in ihrer eigenen Realität. Mütter mit ihren Kindern, Paare, ältere Leute … Jeder hatte sein eigenes Leben, seinen eigenen Werdegang, den man kaum wahrnahm. Die anderen, deren Zukunft man vielleicht erraten konnte.
    Langsam spürte ich, wie sie in mir aufstieg. Die Krise. Ich bekam das Gefühl, eine Woge des Schmerzes dringe durch meine Stirn, markerschütternd, bedrückend, dann verdoppelte sich die Welt vor meinen Augen. Die Umrisse vervielfältigten sich, der Horizont teilte sich.
    Armer Kerl, armer Kerl! Der ist vollständig durcheinander.
    Ich zuckte zusammen. War das wirklich die Stimme des Chauffeurs? In meinem Kopf? Oder eine Halluzination? Ich hätte schwören können, dass es seine Stimme war. Er beobachtete mich ständig im Rückspiegel. Sein Blick wirkte betrübt. Ich wandte die Augen ab. Vielleicht hatte ich mir diesen Satz eingebildet. Ja. Sicher war er eine

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