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Das Kopernikus-Syndrom

Das Kopernikus-Syndrom

Titel: Das Kopernikus-Syndrom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henri Loevenbruck
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kontrollieren. Konzentriere dich. Badji war wieder verschwunden. Er lud wohl noch einmal seine Waffe. Wie viel Munition hatte er noch? Ich hoffte, es war genug, um uns hier rauszuhelfen. Plötzlich hörte ich in der Dunkelheit Geflüster. Anfangs dachte ich, es komme aus meinem Kopfhörer. Aber nein. Ich erkannte es mühelos. Es war das Murmeln der Schatten. Die Stimmen meiner Schizophrenie. Oder etwas anderes. Ich weiß nicht mehr. Das Kopernikus-Syndrom. Ich bin nicht schizophren.
    In diesem Augenblick sah ich, wie sich ein Schatten in der Nähe der Tür in Bewegung setzte. Der zweite Mann. Jetzt. Gebückt schlich er in die Gegenrichtung. Ich kämpfte gegen das Schwindelgefühl an, richtete mich leicht auf, um den Raum zu untersuchen. Diesen Dreckskerl überrumpeln. Meine Gedanken? Nein. Seine. Er hoffte, er könnte sich in Sicherheit bringen und eine Möglichkeit finden, Badji bei der nächsten Salve zu erwischen. Ich schluckte schwer. Hatte der Leibwächter ihn gesehen? Sicher nicht. Er war bestimmt damit beschäftigt, sein Magazin aufzufüllen. Ich durfte nicht zulassen, dass der Kerl Position bezog. Reiß dich zusammen. Ohne zu zögern, erhob ich mich und ging vorsichtig auf den Feind zu. Ich erriet seinen Schatten vor mir, seinen Rücken als ideale Zielscheibe. Mit zitternden Händen hob ich langsam die GLOCK 26. Reiß dich zusammen. Ich tat noch ein paar Schritte. Mein Fuß verfing sich in einem Stuhl. Es gab einen metallischen Laut, als die Lehne gegen einen Schreibtisch stieß.
    Der Kerl drehte sich um und sah mich.
    Die Zeit schien stillzustehen. Oder vielleicht blieb sie wirklich stehen. 88:88. Die Sekunden lösten sich auf wie die Blütenblätter einer verwelkten Rose. Jedes einzelne das erstarrte Bild eines angekündigten Todes. Ich sah meinen ausgestreckten Arm, den Lauf der Waffe auf den Feind gerichtet, unbeweglich.
    Er musterte mich intensiv. Sein Arm hob sich langsam, wie in Zeitlupe, und wies in meine Richtung. Es hätte genügt, dass ich auf den Abzug drückte. Drück auf den Abzug. Ein einfacher Druck des Fingers. Und ich wäre gerettet. Aber etwas hinderte mich daran. Genau das. Das Kopernikus-Syndrom. Der andere. Er. Seine Gedanken. Sie flogen mir zu wie ein Insektenschwarm. Ich spürte die Panik in seinem Kopf, den Druck in seinem Herzen. Seine Todesangst wurde meine. Sein Ich wurde ich. Und ich wurde zu meinem eigenen Feind. Ihn zu töten hätte mich zu töten bedeutet.
    Schieß in den Spiegel.
    Du bist ich.
    Mich töten.
    Ich war unfähig, den Abzug zu betätigen.
    Und einen Augenblick später war es zu spät.
    Der Knall zerriss die Luft. Ein weißer Blitz erhellte den Raum. Dann kam der Schmerz, unerträglich. Die Dunkelheit. Ich spürte die Kugel, die mitten ins Herz drang, das Fleisch, die Muskeln rissen. Dann kam der Schmerzensschrei. Der letzte Schrei. Das Dunkel der Nacht, das sich näherte. Nach und nach wurden die Zentimeter, die das Leben vom Tod trennten, zu Millimetern. Dann der Aufprall. Der plötzliche Tod. In Sekundenschnelle.
    Ich sah, wie er mit weit aufgerissenen Augen vor mir zusammenbrach.
    Mein Herzschlag war, wie die Zeit, stehen geblieben. Die Welt schwankte nicht mehr. Das Murmeln hatte aufgehört. Alles war ruhig und still. Es gab nur noch das Bild von Badji in der Türöffnung, ein paar Schritte von mir entfernt, den Arm ausgestreckt, die Augen weit aufgerissen.
    Allmählich erfüllten meine Herzschläge wie ein dumpfes Geräusch mein ganzes Wesen. Ich berührte meine Brust, als ob ich mich vergewissern wollte, dass ich nicht tot war. Ich sah Badji an, dann den Körper vor mir. Und wieder Badji. Ich spürte einen salzigen Geschmack auf den Lippen. Eine Träne war mir über die Wange gerollt.
    »Vigo, alles in Ordnung?«
    Der Leibwächter trat an meine Seite. Ich brauchte Zeit, um seine Frage zu verstehen.
    »Nein.«
    »Sind Sie in Ordnung? Was ist los?«
    Wenn ich mir dessen nur sicher sein könnte.
    »Ich … ich konnte nicht schießen.«
    Ich blickte ihn aus Augen an, die bestimmt leer und erloschen waren.
    »Ich könnte es nie«, stammelte ich und spürte, wie die Waffe zwischen meinen Fingern zu Boden glitt.
    Badji legte eine Hand in meinen Nacken.
    »Sie stehen unter Schock. Das ist nichts Schlimmes. Kommen Sie, wir müssen Damien suchen.«
    Ich rührte mich nicht von der Stelle. Ich war wie gelähmt. Der Tag des Attentats kam mir ins Gedächtnis. Der genaue Augenblick der Explosion. All die Stimmen, die verstummten. Ich hatte sie vernommen, gefühlt. Ich habe

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